Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
erzählt. Aber sie muss von sich aus reden wollen.«
Aus Kalilas Zimmer ertönte ein lauter Schrei. Ein kurzer Klageton voll Verzweiflung.
Sophie sprang auf und rannte los.
Félix Dumas, der wie Jacques und Jérôme aufgestanden war, machte ihnen Zeichen, sich wieder zu setzen. »Das ist Sophies Aufgabe. Es kann ein Albtraum sein.«
Sophie trat auch schon wieder in den Raum.
»Sie schläft. Ich habe sie kurz gestreichelt, aber ich vermute, sie hat geträumt.«
»Ich will jetzt nicht drängen«, sagte Jacques zu dem Psychiater, »aber wir würden ihr natürlich gern ein paar Fragen stellen. Ab wann halten Sie das für möglich?«
Félix Dumas hob die Augenbrauen, wiegte mit dem Kopf und schaute Sophie an.
»Schwer zu sagen«, antwortete sie. »Wenn wir ausschließlich an das Wohl des Kindes denken, dann sollten Sie als Richter erst einmal gar nicht in Erscheinung treten. Selbst eine ausgebildete Polizistin wie Fabienne würde nur stören.«
»Warum?«, fragte Jacques. »Kalila wird sich doch an Fabienne erinnern.«
»Das Kind weiß noch nicht wirklich, was mit den Eltern passiert ist. Also werde ich ihr vom Tod ihres Vaters und ihrer Mutter so schonend wie möglich erzählen. Da haben wir unsere Methoden. Wir vergleichen ihre Lage mit der anderer Kinder, die Ähnliches durchgemacht haben. Wichtig ist, Kalila das Gefühl von Schuld, das sich automatisch einstellt, möglichst schnell zu nehmen.«
»Viele Opfer erzählen später«, sagte der Chefarzt, »das Schlimmste sei nicht das erlebte Drama selbst gewesen, sondern das, was man ihnen hinterher gesagt hat.«
Jacques überlegte einen Augenblick, dann schlug er vor, für Sophie einen Katalog von Fragen aufzuschreiben, die für die Ermittlungen wichtig waren.
»Vielleicht ist es möglich, alle Gespräche, die Sie mit Kalila führen, auf Video aufzuzeichnen. Auch aus dem Banalsten können wir manchmal Schlüsse ziehen.«
»Das machen wir übrigens immer so«, sagte Félix Dumas. »Wir schauen uns die Aufzeichnung gemeinsam an und können im Consilium das weitere Vorgehen besprechen.«
»Sehr gut! Die vielleicht wichtigste Frage aus meiner Sicht als Untersuchungsrichter wäre: Warum hat Mohammed der Familie gesagt, sie wollten Picknick machen. Warum ist er in den Wald von Ville-d’Avray gefahren? Hatte der Vater dort eine Verabredung? Wenn ja, mit wem? Vielleicht liegt in Kalilas Antwort darauf schon die Lösung unseres Rätsels.«
Sophie nickte: »Das kann ich leicht in meine Unterhaltung über die Vorgänge einfließen lassen. Kein Problem.«
Hunger
D ie beiden Freunde hatten Hunger. Aber inzwischen war es spät am Abend. Nach elf Uhr.
Das Bistro »Metro« gleich an der Ecke Cour de la Métairie und Rue de Belleville, nur wenige Meter von Jérômes Wohnung entfernt, hatte schon geschlossen. Jacques konnte Jérôme schließlich überzeugen, nur hundert Meter die Straße hinab bei einem kleinen, wegen seines Neonlichts unwirtlich wirkenden Chinesen einzukehren, wo es, so behauptete Jacques, die besten Dim Sum aus ganz Belleville gab.
Außerdem lag das Restaurant fast schräg gegenüber von Jacques’ Wohnung. Und an den Plastiktischen saßen nur Chinesen.
Ein gutes Zeichen.
Als sie eintraten, grüßte Jacques eine junge Chinesin an einem Tisch mit einem alten Paar. Guten Abend, Chan Cui. Und erst als sie saßen, fragte Jérôme flüsternd, wer die Frau denn sei. Jacques lachte. Jérôme müsse sich doch an sie erinnern, denn er habe einmal geholfen, sie vor den Behörden zu verstecken. Das sei Chan Cui, die früher bei ihm schwarz geputzt habe, jetzt aber Aufenthaltspapiere besitze und ganz legal bei ihm für Ordnung sorge.
»Die Dim Sum riechen einmalig, Jacques! Ich bitte um Verzeihung, dass ich daran zweifeln konnte«, schwärmte der Arzt, als ein Stapel dampfender Bambuskörbchen auf ihrem Tisch landete.
»Du kannst noch was von mir lernen, obwohl du schon viel länger hier wohnst.«
»Aber du bist mit den Chinesen nach Belleville eingewandert.«
Jacques nahm sich mit den Holzstäbchen eine Teigtasche aus dem Bambuskörbchen und tauchte sie in die Sojasauce.
»Eine Sorge lässt mich nicht los, Jérôme. Wie sicher ist Kalila bei dir?«
»Außer uns vieren weiß doch keiner davon.«
»Doch. Wie ist Kalila denn zu dir gekommen? In einem Krankenwagen. Und der wurde von jemandem gefahren.«
»Mach dir deshalb keine Sorgen. Wir haben Kalila in einem Lieferwagen abgeholt, den jemand fuhr, den ich kenne. Und dem ich vertraue. Du kannst doch
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