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Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou

Titel: Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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einzuschleichen, dann weiß er aus guter Quelle, wo das Mädchen ist. Und was ist eine gute Quelle? Na, es wird dich nicht verwundern: Bei der Polizei hat jemand geplaudert. Und du weißt, das wäre nicht das erste Mal.«
    Er nahm einen weiteren Schluck.
    »Ich bin deshalb gestern Nacht, nachdem wir bei Gaston unseren Absacker getrunken haben und nach Hause gegangen sind, noch ins Internet und habe schon nach zehn Minuten meinen alten Freund gefunden. Das war ganz leicht. Denn der ist jetzt Chefarzt im Necker. Und halt dich fest. Er hat die kleine Frau immer noch in seinem Team.«
    Jérôme schaute in sein Glas, ließ die Eiswürfel klimpern. Jacques schwieg.
    »Ich habe meinen Freund noch nachts rausgeklingelt, habe ihm die Notlage erklärt und dann die Verlegung von Kalila in die Obhut der kleinen Frau besprochen. Das war nicht schwer. Auch mit der kleinen Frau …«
    »Hat die ›kleine Frau‹ auch einen Namen?«
    »Ja, entschuldige Jacques, sie heißt Sophie. Und natürlich habe ich gestern Nacht auch noch mit Sophie gesprochen. Die ist nächtliche Anrufe und Notfälle gewohnt. Sophie meinte, Voraussetzung für eine gute Behandlung sei, Kalila möglichst in eine heimische Umgebung zu bringen.
    Na, und was ist heimisch? Dein Zuhause.«
    »Du hast sie doch nicht etwa im leeren Hause der Familie untergebracht?«
    »Jacques, ich bitte dich. Nein, natürlich nicht. Aber ich habe ein paar Jungs aus Belleville, die mir noch einen großen Gefallen schuldig sind, losgeschickt, um das Kinderzimmer von Kalila so vollständig wie möglich abzubauen und hierherzubringen.«
    »Was? Bist du wahnsinnig, Jérôme? Ihr seid in das Haus des Ermordeten eingebrochen? Das ist doch offiziell von der Polizei versiegelt.«
    »Erstens war ich nicht dabei. Und zweitens ist es Notwehr. Es kommt doch jetzt auf den Erfolg an, nicht auf so ’ne Kleinigkeit wie ein Polizeisiegel. Damit können die Jungs übrigens umgehen.« Er trank wieder einen Schluck.
    »Das Kinderzimmer haben wir unten in meiner Praxis eingerichtet, im Nebenzimmer wohnt Sophie. Ich habe dort, und du brauchst auch in dem Fall nicht zu wissen, warum, ein paar Zimmer, in die ich Kranke einweisen kann.«
    »Was immer du als ›krank‹ ansiehst.«
    »Was immer ich als Arzt so beurteile.«

Zeugin des Mordes
    » E s muss entsetzlich sein, was in dem kleinen Kopf jetzt vor sich geht. Sie erlebt, wie ihre Mutter und ihr Vater erschossen werden«, sagte Jacques. »Das Mädchen ist doch für sein Leben gezeichnet.«
    »Sicher ist es furchtbar für ein Kind. Selbst für einen Erwachsenen wäre es furchtbar«, sagte Professor Félix Dumas, Chefarzt vom Necker. Wenn er vorgestellt wurde, erklärte Dumas stets mit einem Lächeln, er sei weder verwandt mit dem Schriftsteller, noch mit dem Politiker oder der Malerin.
    »Aber ich bin nicht ganz so pessimistisch«, fuhr der Psychiaterfreund von Jérôme fort: »Bisher zeigt Kalila wenige traumatische Störungen. Sie leidet noch nicht unter Albträumen, ist nicht übermäßig verängstigt, reagiert nicht schreckhaft auf Lärm. Lärm könnte die Erinnerung an Schüsse wachrufen.«
    »Kann das nicht später auch noch kommen?«, fragte Jacques.
    »Das wird es ohne Zweifel. Wir dürfen jetzt nicht denken, das Kind hätte nicht verstanden, was vorgefallen ist. Sie hat eine seelische Verletzung erlitten, und die verursacht lähmende Furcht und Gefühle von Hilflosigkeit und Verlust. Einerseits weiß das Kind, was es erlebt hat und andererseits, will es nicht davon sprechen. Man nennt das eine seelische Spaltung. Aber diese Störungen können überwunden werden. Es kommt darauf an, wie wir jetzt mit dem Mädchen umgehen. Kinder, die aufgrund ihres bisherigen Lebens Vertrauen in Erwachsene aufgebaut haben, stehen das besser durch.«
    Jacques schaute in die Runde und wandte sich an Sophie.
    »Wie verhält sich Kalila denn im Augenblick?«
    Sophie war wirklich klein. Vielleicht einszwanzig groß. Sie wirkte wie die Miniaturausgabe einer zarten, sogar hübschen Frau.
    »Als sie heute früh fast glaubte, in ihr Kinderzimmer zu kommen, war sie richtig glücklich«, sagte die kleine Frau. »Wir befinden uns jetzt am zweiten Tag nach der Ermordung ihrer Eltern. Bisher steht sie weitgehend unter Medikamenten. Auch jetzt schläft sie wieder unter einem leichten Beruhigungsmittel. Ich habe den Eindruck, dass sie mir vertraut wie einem Spielkameraden. Deshalb kann ich wahrscheinlich morgen versuchen, mit ihr ins Gespräch zu kommen und zu hören, was sie

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