Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
jetzt nicht die Polizei vor meine Tür stellen. Da gibt es bestimmt jemanden, der plaudert. Das hast du doch selbst schon in dem einen oder anderen Fall erlebt. Du kommst zu einer Durchsuchung und dort findet gerade das Großreinemachen statt. Warum? Jemand von der Polizei hat den Verdächtigen noch schnell gewarnt. Und dieser Jemand erhält dann eine kleine Belohnung.«
»Wie wäre es, wenn du einige deiner ›vertrauenswürdigen‹ Kerle motivierst, Wache zu schieben, etwa die, die auch das Kinderzimmer geholt haben?«
»Irgendwann wollen die dafür einen Ausgleich. Ich als Arzt kann das tun. Du als Richter nicht. Oder würdest du einen von denen laufen lassen, wenn er vor dir stünde?«
»Ihn laufen lassen, obwohl ich von seiner Schuld überzeugt bin? Sicher, klar doch. Das kann er schriftlich haben, wenn er will.«
Erstaunt schaute Jérôme den Untersuchungsrichter an, der ohne eine Miene zu verziehen eine weitere Teigtasche in seinen Mund schob.
Dann lachten beide. Und Jérôme versprach, mit seinen jungen Freunden zu sprechen. Jetzt sei die richtige Zeit, sie anzurufen, denn langsam würden sie wohl wach.
»Wahrscheinlich solltest du deinen Freunden sagen, dass es sich hier um die Zeugin eines Vierfachmordes handelt. Dass sie es also wirklich mit gefährlichen Leuten zu tun haben.«
Als die Rechnung kam, war Jacques wieder einmal verblüfft, wie wenig das Essen hier kostete.
»Schau dir das an. Ich lade dich ein, lieber Jérôme. Gerade einmal 23 Euro. Phantastisch.«
In diesem Moment schlug die Restauranttür auf, und zwei Chinesinnen stürzten schreiend in den Raum. In rasendem Tempo sprang ein halbes Dutzend Chinesen auf und rannte auf die Straße. Draußen ertönte lautes Geschrei, und wenige Minuten später kamen die Männer zurück. Jérôme erkundigte sich, was passiert sei. Vier afrikanische Bootsflüchtlinge wollten den Chinesinnen die Handtaschen entreißen.
»Sie sind doch Richter«, sagte die chinesische Wirtin zu Jacques, »Sie sollten endlich für Sicherheit in Belleville sorgen.«
Die Angst des Richters
J ean Mahon hatte sich mit seinem Dienstwagen zum Frühstück mit Jacques im Bistro »Aux Folies« fahren lassen, war aber unten an der Ecke beim Eingang zur Metrostation Belleville ausgestiegen. Er hatte seinen Fahrer gebeten, dort zu warten und war die wenigen Meter zum Bistro die Rue de Belleville hoch zu Fuß gelaufen. Aus Rücksicht auf Jacques. Denn der predigte gern Bescheidenheit und Demut, wenn es in seinem privaten Umfeld darum ging, sich nicht auffällig als Staatsmacht zu demonstrieren.
Die Leute aus Belleville wussten zwar, dass er Untersuchungsrichter war, ein mächtiger sogar, aber eher einer, der den Großen auf die Finger klopfte und zu den kleinen Leuten hielt. Er war einer der Ihren. Würde er sonst hier wohnen?
Jean Mahon winkte ab, als Gaston ein Croissant brachte, weil er zu Hause mit seiner Frau schon gefrühstückt hatte. Aber er nehme gern noch einen Kaffee.
»Entschuldige, dass ich dich gestern um Mitternacht angerufen habe«, sagte Jacques. »Ich wollte dich beruhigen. Aber am Telefon konnte ich dir keine Details erzählen, etwa wo Kalila ist. Und warum sie da ist.«
Jacques überlegte, ob er sich entschuldigen müsste. Aber nein, er hatte ja Grund für seinen Zorn.
Auch Jean Mahon zögerte mit einem Wort der Entschuldigung. Er fand, Jacques hätte sich ein wenig zu dramatisch benommen.
Beide schauten einen Moment auf das lebendige Treiben in der Rue de Belleville.
Dann begann Jacques ganz plötzlich in völlig normalem Ton, die Lage zu schildern.
Als er geendet hatte, schwieg Kommissar Jean Mahon einen Moment. Schließlich sagte er: »Weißt du, was merkwürdig ist: Die Magnetkarte des Stationsarztes hat sich wiedergefunden. Sie steckte plötzlich am Morgen wieder in seinem Arztkittel.«
»Ich mache mir große Sorgen um die Sicherheit des Mädchens«, sagte Jacques. »Wenn der Vorfall im Krankenhaus Necker wirklich mit den Morden zusammenhängt, können wir ausschließen, dass der Täter ein Verrückter ist.«
»Wir können auch ausschließen, dass es die Rechtsextremen waren«, fügte der Kommissar hinzu. »Wir haben nach dem Bekennerschreiben dem Führer von Nomad 88 , der nennt sich wirklich ›Führer‹!, einen nicht ganz freundlichen Hausbesuch abgestattet und ihn mitgenommen. Die wollten nur auffallen. Gott sei Dank ist die Presse nicht drauf eingegangen.«
»Wer könnte sonst infrage kommen? Ich vermute, es ist jemand aus einem System,
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