Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
Stimmchen den leicht veränderten Schlussrefrain »Il y a longtemps que je t’aime, Maman, jamais je ne t’oublierai – ich liebe dich seit langem, Mama, nie werde ich dich vergessen«.
Auch der Chefarzt holte aus der Schublade ein Papiertaschentuch und schnäuzte sich.
»Oh je. Das arme Mädchen«, sagte er. »Nur das? Immer wieder das Lied?«
»Ja. Ich rede mit ihr, versuche sie in die Gegenwart zu holen«, sagte Sophie. »Aber ich habe den Eindruck, dass sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Umwelt hat und sich mit ihren Gedanken und Gefühlen völlig abgeschnitten vom wirklichen Leben im Kreis dreht.«
»Vermutlich hat sie noch Albträume?«
»Ja. Und führt Selbstgespräche.«
»Ich fürchte, sie hat nicht nur ein Verlusttrauma, sondern vom Miterleben der Mordszene auch ein Existenztrauma. Schlimmer kann’s nicht kommen. Wir können das Mädchen nicht länger in dieser merkwürdigen Umgebung des Dorfarztes von Belleville lassen. Wir müssen sie hier behandeln.«
Sophie widersprach. Das sei zu früh. Das Mädchen schlafe sehr viel und fühle sich beschützt in der Gegenwart von ihr und der Polizistin Fabienne, die sie im Augenblick hüte. Vielleicht erinnere sich Kalila, dass Fabienne sie aus dem Auto des Vaters geholt habe.
»In zwei, drei Tagen sprechen wir uns wieder«, sagte Félix Dumas.
Einen Moment lang überlegte der Chefarzt. Dann ging er an seinen Schrank und holte zwei Schachteln mit Pillen und eine Flasche mit einem Saft heraus. Auf einem Rezeptblock notierte er die Dosierung, gab beides schweigend der kleinen Frau, die einen Dank nickte und ging.
Auf dem Flur grüßte sie eine junge chinesische Krankenschwester, die Sophie aus der Kinderabteilung kannte. Sie fragte: »Und wie geht es der Kleinen?«
Sophie hob beide Hände abwehrend, machte nur ein beruhigendes Geräusch, als fordere sie zur Ruhe auf, pssssst, und nickte. Mit Fabiennes Hilfe hatte Sophie einen sicheren Weg für ihren Besuch im Krankenhaus und zurück in Jérômes Praxis in Belleville ausgemacht. Die kleine Frau stieg in der Tiefgarage des Hospitals in den Wagen einer Zivilstreife, der fuhr mit ihr in die Tiefgarage des Palais de Justice auf der Île de la Cité, und dann durch die Garage hindurch zu einer zweiten Ausfahrt. Dort wechselte sie in einen geschlossenen Lieferwagen mit dem Schriftzug einer Wäscherei. Wer auch immer ihr vom Krankenhaus folgte, würde sie spätestens hier aus den Augen verloren haben.
Vor der Einfahrt zum Innenhof des »Cour de la Métairie« parkte der bunte Lotusbus der Ärzte der Welt. Mit dem Kleinbus versorgten Freiwillige in ganz Paris chinesische Prostituierte mit Kondomen, gaben medizinischen und menschlichen Rat. In einer langen Schlange standen Frauen, meist um die vierzig, schweigend in diskretem Abstand hintereinander.
Sophie blieb nichts anderes übrig, als schnell aus der Seitentür des Lieferwagens der Wäscherei zu springen und zur Tür des Hauses zu laufen, in der Jérômes Praxis und Wohnung lag.
Es war später Nachmittag. Auf der Straße wimmelte es von Franzosen und Arabern, Chinesen und Afrikanern.
Fabienne öffnete die Tür und legte den Finger an den Mund. Kalila schlief. Sie sei vor Erschöpfung nach einem Weinkrampf eingeschlafen.
»War etwas Besonderes?«
»Ja, vielleicht. Wir haben mit meinem iPad gespielt. Das fand sie lustig, und sie hat sogar ein- oder zweimal gelacht. Dann entdeckte sie ein Foto, das ich gerade empfangen hatte. Darauf ist ihr Vater zu sehen mit einem Familienfreund. Ich fragte sie, ob sie den Freund kenne. Sie sagte: Ja, das ist Onkel Hariri, der hat die Verabredung mit Papa zum Picknick getroffen. Papa hat uns gesagt, wenn Onkel Hariri was sagt, ist es wichtig. Dann hat sie das Bild von ihrem Vater auf dem iPad geküsst und fing an zu weinen.«
»Ohgott, das hättest du nie tun dürfen!«, rief Sophie.
»Entschuldigung, das ist ganz unbewusst passiert!«
Fabienne sah die kleine Frau schuldbewusst an. Natürlich hatte sie das Foto absichtlich auf dem iPad hochgeladen, sodass Kalila es sehen würde. Und sie hatte sich auch versichert, dass das Video lief, sodass die Reaktion des Mädchens aufgezeichnet würde. Und sobald sie konnte, hatte sie Kommissar Jean Mahon informiert.
Plötzlich klangen aus dem Kinderzimmer die klaren Töne des Xylophons, und Kalilas zarte Stimme sang: »Ich liebe dich seit langem, Mama, nie werde ich dich vergessen.«
Flucht in den Untergrund
B rahim und Jacques warteten im Auto, während Ali vom »Café moderne«
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