Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
nicht?«
Gao Qiu zeigte mit der rechten Hand in die Speisekarte, so als erkläre er ein Gericht.
»Kompliziert. Die Polizei hat das Mädchen aus dem Krankenhaus verlegt, und ich konnte bisher noch nicht herausfinden, wohin. Ich weiß aber, unter wessen Obhut sie ist.«
»Und?«
»Monsieur, ich werde das Objekt schon treffen.«
»Von wegen ›treffen‹. Es wäre sinnvoll, wenn Sie keine Schusswaffe einsetzen, sondern es wie einen Unfall aussehen lassen. Alles andere bringt die Gemüter in Wallung. Und wenn Gefühle hochkochen, dann wird der Druck auf die Polizei, den Fall sofort zu lösen, besonders stark.«
»Sicher Monsieur. Es kann allerdings sein, dass der Chef des 14 K Sie wegen einer finanziellen Unterstützung ansprechen wird. Denn um das Objekt zu finden, habe ich ihn um Mithilfe bitten müssen. Dem 14 K gehören mehrere Tausend Familien in Paris an. Und alle Mitglieder des 14 K sind in erhöhter Alarmbereitschaft und aufgefordert, sich nach der Person umzuschauen, die sich um das Kind kümmert. Da eine Belohnung ausgesetzt ist, spielen auch viele junge Leute nach der Schule oder nach der Arbeit Detektiv. Und Sie wissen, Monsieur, Kinder sind sehr erfinderisch.«
»Mag sein. Hoffentlich klappt’s bald. Wer ist diese merkwürdige Person?«
»Eine Spezialistin für Traumakinder. Sie ist eine kleine Frau, von der Größe eines zehnjährigen Kindes.«
»Ich gebe Ihnen noch höchstens drei Tage. Der zuständige Untersuchungsrichter ist im Moment verreist. Wenn er wiederkommt, wird er sich darum bemühen, das Kind zu befragen. Und wenn Sie die Aufgabe bis dahin nicht erledigt haben, werde ich den Drachenmeister bitten, jemand anderen einzusetzen.«
Gao Qiu schwieg.
»Und wie immer nehme ich als Vorspeise gedämpfte Reisravioli mit Lauch«, sagte Monsieur nach einer unangenehm langen Pause. »Danach von den Salz-und-Pfeffer-Spezialitäten des Hauses die Wachtel und die Krabbenzangen. Dazu Tagesgemüse aus dem Wok.«
»Und ein Tsingtao Bier?«
Monsieur schmunzelte.
»Ja, ein Tsingtao Bier!«
Der zweite Brief des Corbeau
I n den frühen Morgenstunden war eine große braune Versandtasche von einem Kurier beim Pförtner am Eingang des Verlagshauses abgegeben worden. Für Margaux. Der Pförtner legte den Umschlag zum Posteingang. Und als die Post in der Redaktion verteilt war, hatte Margaux ihren Schreibtisch schon wieder wegen eines Termins verlassen. Als sie dann am späten Nachmittag von ihrer Recherche zurückkam, musste sie schnell die zwanzig Zeilen für die Online-Ausgabe texten. Den Artikel für die gedruckte Ausgabe würde sie anschließend schreiben. Sie fluchte leise vor sich hin. Eine Story in zwanzig Zeilen zu verfassen ist schwieriger als in zweihundert.
Nach Redaktionsschluss gegen halb acht räumte sie ihren Schreibtisch auf und griff in den Posteingangskorb. Zuerst öffnete sie die normalen Briefe, meist waren es Einladungen zu Veranstaltungen der Ministerien des Senats oder des Abgeordnetenhauses oder von Botschaften. Manche warf Margaux sofort in den Papierkorb, auf andere schrieb sie ja oder nein. Die Redaktionssekretärin würde alles Weitere übernehmen. Zum Schluss blieb die braune Versandtasche übrig, und Margaux überlegte kurz, ob sie die nicht ungeöffnet in den Abfall werfen sollte. Ach Gott, wahrscheinlich schickt da wieder irgendjemand, der sich verfolgt fühlt, seine Akten. Oder ich soll helfen, ein Manuskript zu veröffentlichen. Lästig. Na gut, der Umschlag fühlte sich dünn an. Sie riss die Lasche oben auf und griff hinein. Drei fotokopierte Seiten. Auf dem ersten Blatt war unter den Wappen des Königreichs Marokko und der Republik Frankreich angegeben, dass es sich um einen Vertrag handele. In gewundenen, schwülstigen Formulierungen versicherten sich die Vertragsparteien ihres Vertrauens und so weiter. Margaux blätterte weiter. Blatt 23 und 24 des Vertrags. Ein großer Teil des Textes war geschwärzt.
Plötzlich war Margaux hellwach.
Sie nahm sich einen Block und einen Stift. Doch dann stand sie schnell auf, lief zum Kopiergerät, und machte je drei Ablichtungen, legte das Original mitsamt dem braunen Umschlag in ihre Schreibtischschublade und unterstrich die wesentlichen Punkte im Text.
Es handelte sich um einen Auszug aus einem Abkommen, das Frankreich verpflichtete in Marokko eine Schnellbahnstrecke von Tanger nach Casablanca zu bauen.
Margaux konnte aus den Seiten keine wesentlichen Informationen über das Geschäft herauslesen. Dem Corbeau war es
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