Das Mauerblümchen erringen (German Edition)
Wimpern hätten einem Engel gehören können. Und der Bogen ihrer Lippen war mehr als nur schön, vielleicht wegen der Andeutung von Traurigkeit, die er erahnte.
„Haben Sie an Ihre Schwester gedacht, wenn ich zum Tee kam? Sie schienen mir oft so weit entfernt.“
Lucy warf ihm einen ironischen Blick zu. „Das ist zwanzig Jahre her, Cyrus. Natürlich nicht!“
„Als Sie nicht in die Kinderstube zurückwollten, was hat Ihr Kindermädchen da getan? Ihr höchst unfähiges Kindermädchen, wenn ich das so sagen darf.“
„Sie tat ihr Bestes. Sie haben mich in ein Zimmer im Erdgeschoss verlegt, das auf den Garten hinausging. Und wie der Zufall es will, schlafe ich immer noch dort.“ Ihre Lippen verzogen sich zu einem selbstkritischen Lächeln. „Verstehen Sie, ich habe es nicht nur strikt abgelehnt, die Kinderstube zu betreten; ich wollte überhaupt nicht mehr nach oben. Wahrscheinlich könnte ich meinen fünf Begriffen >stur< hinzufügen.“
Cyrus fuhr mit der Hand an ihrem Arm entlang und fing ihre nassen Finger ein. Dann schloss er seine Hand darum, um sie zu wärmen. „Hatten Sie Angst vor ihrem Geist?“
„Nein.“ Lucy starrte einen Augenblick schweigend in den Regen. „Aus irgendeinem Grund habe ich geglaubt, ich könnte sie bei mir behalten, wenn ich nicht in die Kinderstube oder in die oberen Stockwerke ginge. Ich habe geglaubt, dann würde sie mich nicht verlassen und in den Himmel gehen. Das ergibt natürlich keinen Sinn, aber es hat sehr lange gedauert, bis ich diesen Glauben überwunden habe. Erst an meinem siebten Geburtstag bin ich wieder nach oben gegangen, und das auch nur unter Zwang.“ Sie sah ihn mit einer Belustigung an, in die sich leichte Reue mischte. „Furchtbar stur ... und eine Träumerin. Eine schlechte Mischung.“
Cyrus ließ ihre Hand los und zog sie in den Kreis seiner Arme. „Das kann man doch nicht wissen. Vielleicht wäre der kleine Engel lieber in der Kinderstube geblieben, statt seine Schwester allein zu lassen.“
Ihre Blicke trafen sich, und der ihre wurde weich. „Küss mich“, bat Cyrus und hörte einigermaßen ungläubig den Klang seiner eigenen Stimme: dunkel, kehlig. „Küss mich, Lucy. Bitte.“
Es war wie Manna vom Himmel, als sie ihre schlanken Arme um seinen Hals schlang, als sie ihm ihr Gesicht entgegenhob, als sie nicht erschrak, weil er sie nicht wie ein Gentleman küsste, sondern wieder über sie herfiel und sich wie ein verhungerndes Tier auf ihren Mund stürzte.
Er raubte den Kuss, küsste sie, als würde er sie mit seinem ganzen Körper lieben. Das lag nicht allein an Pole. Oder an seinem schlechten Gewissen. Oder an irgendeinem anderen Grund, dessentwegen sie ihn gescholten hatte.
„Ich küsse Sie nicht, weil ich auf meinen Cousin eifersüchtig bin“, rechtfertigte er sich, als er sich von ihr löste. Die Worte klangen wahr, denn sie waren es.
Lucy wirkte ein wenig betrunken: Weich war ihr Blick und ein wenig verschwommen, ihre Lippen von seinen Küssen geschwollen. Haarsträhnen glitten an seinen Fingern vorbei wie Mondlicht, das sich in Maisgrannen verwandelt hatte. „Warum küssen Sie mich dann?“, flüsterte sie.
„Ich will verdammt sein, wenn ich das weiß“, erwiderte er mit brutaler Ehrlichkeit. „Ich muss Sie einfach küssen, das ist es.“ Und er senkte den Kopf und berührte ihre Lippen. Und spürte, wie er an ihrem Körper erschauerte wie ein junger Bursche.
„Ich küsse Sie nicht, weil Sie mir leidtun“, versicherte er eine Weile später. Sie hatte die Finger in seinem Haar vergraben.
„Nun, das ist doch gut“, erwiderte Lucy. Nun klang sie wirklich betrunken. „Ich möchte niemanden küssen, bloß weil er mich bedauert. Nicht einmal Sie.“
„Ich habe gesehen, wie Rathbone Sie ansah.“ Er biss sie leicht in die zarte Ohrmuschel.
Lucy quietschte leise, also tat er es wieder und spürte das Beben, das durch ihren Leib ging.
„Er begehrt Sie. Ich habe gesehen, wie ihr zusammen gelacht habt. Auch er hat Sie zum ersten Mal wirklich
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