Das Mauerblümchen erringen (German Edition)
den Midlands bezogen.
Doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Was zur Hölle tat er eigentlich hier? Sie hatte doch mit ihm gebrochen, oder etwa nicht?
Cyrus pflegte nicht impulsiv oder vernunftwidrig zu handeln. Und doch hatte er es am gestrigen Abend getan. Er hatte Lucy absichtlich vorgeschwindelt, sie habe ihren Réticule im Ballsaal liegen gelassen, und ihn danach von der Terrasse aufgelesen, damit er einen Grund hatte, sie wiederzusehen. Das Täschchen steckte unter seinem Mantel.
Vielleicht war es gar nicht so unvernünftig. Immerhin hatte er in die Verlobung Zeit investiert. Es war doch verständlich, dass diese Mühe nicht umsonst gewesen sein sollte. Wenn er jedes Mal bei den ersten Widerständen aufgegeben hätte, würde er immer noch dem ersten Teil seines Vermögens hinterher jagen.
Er widmete sich wieder seinen Papieren.
Doch etwas bedrückte ihn, und nach einer Weile ertappte er sich dabei, blicklos auf die Zahlen zu starren. Konnte es sein, dass er nur deshalb gekommen war, weil er eine Niederlage nicht ertragen konnte? Oder schlimmer noch: Weil er wusste, wie freundlich Lord und Lady Towerton den Herzog von Pole willkommen heißen würden, wenn er käme, um Lucy einen Antrag zu machen?
Aufgeblasener Wichtigtuer. Im Geiste hörte ihre Stimme, die die Worte mit einer gewissen Belustigung aussprach. Ist Ihnen niemals in den Sinn gekommen, dass Sie ein aufgeblasener Wichtigtuer sind?
Nein.
Pole ja, der war ein aufgeblasener Wichtigtuer, er, Cyrus, hingegen nicht.
Pole war derjenige, der Menschen schäbig behandelte. Der seine Freunde vor den Kopf stieß und Fremden gegenüber sogar grausam sein konnte.
Dennoch war er es, Cyrus, und nicht Pole, der seine Verlobte wie eine Schachfigur behandelt hatte, und sie war nicht einmal die wichtigste Figur in seinem Spiel gewesen. Solcherlei Gefühle — Bedauern, das fast schon in Trübsal umschlug — hatte Cyrus bislang nicht gekannt.
Er rollte die Papiere wieder zusammen und steckte sie in eine tiefe Tasche seines Mantels. Er wollte nur noch auf sein Pferd steigen und diese Geschichte weit hinter sich lassen. Doch wenn er daran dachte, dass er damit auch Lucy verlieren würde, war ihm, als griffe eine kalte Hand in seine Brust und presse sein Herz zusammen.
Lächerlich.
In gewisser Weise hatte sie ihn aus der verbissenen Zielstrebigkeit erlöst, mit der er Nummer Eins bis Fünf seines Plans verfolgt hatte ... und nun beinahe bei Nummer Sechs angekommen war.
Wobei er die Menschen auf seinem Weg wie Dominosteine benutzt hatte.
Wobei ihm völlig entgangen war, dass seine Verlobte ein humorvoller Mensch war, und zugleich auch ein wenig traurig, und dabei sehr schön, mit den rosigsten Lippen der Welt und Brüsten, nach denen es ihn schmerzlich verlangte.
Was für ein Narr er doch war!
Cyrus stopfte die Papiere tiefer in die Tasche. Er würde einem Reitknecht auftragen, Lucy das Täschchen zurückzugeben. Er verschwendete nur seine Zeit; sie wollte ihn ja nicht mehr.
Doch als er den Gang entlang zu seinem Pferd schritt, vernahm er ein Lachen, das ihm bekannt vorkam. Er blieb wie erstarrt stehen ... und da trat sie auch schon durch die Tür, immer noch lachend.
Und nun war die Reihe an ihr , wie angewurzelt stehen zu bleiben. „Was in aller Welt haben Sie hier verloren?“, fragte sie mit einer gepressten Stimme, aus der jegliche Lachlust gewichen war. Der Diener, der sie begleitete, trat einen Schritt vor; nicht dass es bedrohlich wirkte, sondern vielmehr wachsam.
„Sie haben mir vorgeworfen, dass ich Sie nie gebeten hätte, mit mir auszureiten“, sagte Cyrus, ohne den Diener anzusehen. „Jetzt wollte ich meinen Fehler wieder gutmachen.“
Lucy zog die rechte Augenbraue hoch. Cyrus sah sie hingerissen an. Sie hatte so bewegliche Gesichtszüge, sie hatte ein so interessantes Gesicht. Und als Reaktion auf sein Kommen waren ihre Wangen von einem rosigen Hauch
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