Das Mauerblümchen erringen (German Edition)
Ihre Mutter“, fuhr Cyrus fort und lehnte sich an die Balustrade, ließ aber seine Hände locker auf Lucys Taille ruhen. Sein Benehmen war skandalös, aber wenn jemand auf die Terrasse kam, brauchte er sie ja nur sinken zu lassen.
„Nein, das stimmt.“ Sie sagte es weder beteuernd noch entschuldigend, sondern wie jemand, der ganz genau wusste, wie unhöflich ihre Mutter sein konnte.
„Also — wie sind Sie?“
„Ich vermag einen Menschen nicht in fünf Begriffen zu beschreiben. Sie nicht, und mich selbst schon gar nicht, weil ich mich viel zu gut kenne.“
„Ich könnte mich in fünf Begriffen beschreiben.“
Lucy zog fragend eine Augenbraue hoch.
„Ehrgeizig. Besitzergreifend.“
„Intelligent?“
„Intelligent ... und gleichzeitig entsetzlich dumm.“ Das Lachen in ihren Augen entschädigte für den Schmerz, als aufgeblasener Wichtigtuer bezeichnet worden zu sein — vielmehr, den Titel aufgeblasener Wichtigtuer zu verdienen .
„Und der letzte Begriff?“
„Bedauernd.“ Er lächelte reumütig. „Und Sie?“
Lucy zögerte. Er glaubte, sie werde ihn nun doch stehen lassen. Doch dann hob sie an. „Streitsüchtig. Tagträumerin.“
„Mathematikerin“, setzte er hinzu.
„Unsinn!“
„Sie haben in sechs Wochen jede Partie Piquet gegen mich gewonnen.“
„Mit Zahlen umgehen zu können macht einen noch lange nicht zum Mathematiker.“
„Streitsüchtig, Tagträumerin, Mathematikerin“, fasste Cyrus zusammen. „Und weiter?“
Sie öffnete den Mund, doch er fiel ihr ins Wort.
„Und sagen Sie nicht >Mauerblümchen<, denn ich habe Sie den ganzen Abend beobachtet. Dieses Etikett trifft auf Sie nicht zu.“
Lucy lächelte. Es war ein geheimnisvolles Lächeln, das Cyrus an Kleopatra gemahnte. „Leidenschaftlich. Ich werde mich eines Tages verlieben.“
Die Wahrheit ihrer Worte machte Cyrus benommen. Diese hinreißende, streitsüchtige, scharfzüngige Frau war leidenschaftlich. „Und?“, stieß er hervor. „Ein letzter Begriff, um Miss Towerton zu beschreiben?“
Lucy wandte den Blick ab und starrte in den Regen. „Zwilling.“
„ Zwilling? “
Sie löste sich von ihm und trat einen Schritt zur Seite, stand neben ihm an der Balustrade und streckte eine Hand in den silbrigen Regen. „Meine Zwillingsschwester ist gestorben, als ich fünf war.“
„Erinnern Sie sich an sie?“
„O ja.“
„War es ... vermissen Sie sie immer noch?“
„Nicht oft. Aber irgendwie ist sie immer noch bei uns. Mutter hat sich seit damals sehr verändert ...“ Sie warf ihm einen Blick zu, der nur bestätigte, wie herzlos ihre Mutter mitunter sein konnte. „Meine Schwester und ich waren an einem Fieber erkrankt. Ich wurde wieder gesund; sie nicht. Mutter war nicht mehr dieselbe, nachdem Beata gestorben war. Sie hat sich ein volles Jahr in ihrem Schlafzimmer vergraben, zumindest wurde es mir so erzählt. Ich erinnere mich nicht mehr daran.“
„Sie hat ihr Schlafzimmer nicht verlassen?“, fragte er zornig.
Lucy schüttelte den Kopf. „Nicht ein einziges Mal.“
„Aber wer hat sich um Sie gekümmert? Hat man Sie in der Kinderstube allein gelassen?“
Lucy drehte ihre Hand; Regentropfen prallten von ihrem Handteller ab. „Da wären ja noch meine Brüder gewesen; sie waren noch nicht im Internat. Die Wahrheit aber ist, dass ich mich strikt geweigert habe, die Kinderstube auch nur zu betreten. Und da meine Mutter sich ... da sie nicht in der Lage war, ihr Zimmer zu verlassen, gab es auch niemanden, der mich dazu zwingen konnte. Ich besaß eben viel mehr Willensstärke als unser Kindermädchen.“
Cyrus betrachtete fasziniert ihr Profil. Lucys
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