Das Mauerblümchen erringen (German Edition)
deren Ansichten keine große Rolle mehr spielten. Was war aus der Panik geworden, zur Heirat mit einem ungeliebten Mann gezwungen zu werden? Die war verschwunden.
Und wenn der Herzog von Pole auf Händen und Knien vor ihr kriechen würde, sie würde ihn nicht heiraten.
Warum eigentlich nicht einen Mann nehmen, der sie anbetete? Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte Lucy sich, aus Liebe geheiratet zu werden, so wie die hübschen Mädchen, die keine Bohnenstangen waren.
Heute Abend hatte Cyrus sie schon mehr wie der Piratenliebhaber aus ihren Träumen angeschaut. Sein letzter Kuss, nachdem sie ihm von Beata erzählt hatte, war anders gewesen.
Lucy seifte sich die Beine ein. Seit Jahren hatte sie ihre Zwillingsschwester nicht mehr erwähnt. Sie war sich nicht einmal sicher, ob Olivia wusste, dass sie ein Zwilling gewesen war. Und doch hatte sie es in einem Ballsaal einem Mann erzählt, den sie kaum kannte?
Den sie kaum kannte ... obwohl sie kurz davor stand, sich in ihn zu verlieben. Und sie wusste auch, warum. Weil er zutiefst anständig war. Weil er widerspruchslos hingenommen hatte, dass sie ihn einen aufgeblasenen Wichtigtuer nannte. Weil er alles dafür getan hatte, um sie um Verzeihung zu bitten, zunächst mit Worten, und dann, viel überzeugender, mit einem Kuss.
Sie stand auf und griff nach dem Handtuch, das auf einem Stuhl bereitlag. Cyrus würde stets versuchen, der Herr im Hause zu sein. Er würde glauben, genau zu wissen, was für alle am besten war, und seine Entscheidungen dementsprechend fällen.
Wenn sie ihn heiratete, würden sie stets um die Vorherrschaft kämpfen.
Lucy beugte sich vor, um Füße und Knöchel abzutrocknen. Dann richtete sich wieder auf und betrachtete sich im Standspiegel.
Ihre Brüste fühlten sich nach seinen Liebkosungen anders an, obwohl das doch sicher unmöglich war. Sie kamen ihr schwerer und empfindlicher vor.
Lucy ließ das Handtuch fallen und drehte sich vor dem Spiegel, betrachtete ihren Po, der sich über ihrem schlanken Oberschenkel vorwölbte. Wann hatte sie eigentlich beschlossen, dass sie keinerlei weibliche Anziehungskraft besaß?
Sie hatte das Gefühl, drei lange Jahre ausschließlich in Gesellschaft alter Witwen verbracht zu haben. Jedes Mal, wenn ein Gentleman zufällig seine Schritte in ihre Richtung lenkte, hatte sie unter Herzklopfen die himmlischen Mächte angefleht, ihre Mutter möge den armen Kerl nicht dazu zwingen, ihre Tochter auf den Tanzboden zu führen.
Vielleicht hatte sie die ganze Zeit falsch gedacht.
Lucy kroch ins Bett und erinnerte sich, wie Cyrus sie auf der Terrasse angeschaut hatte. Dann glitt sie in einen Traum, in dem der Pirat sie von dem brennenden Schiffsdeck rettete — doch jetzt stand ein verschlagenes Grinsen auf seinem Gesicht. Es war ein Grinsen wie das on Cyrus ... wenn Cyrus gewusst hätte, wie man grinste.
Selbst im Traum wusste Lucy, dass der Pirat dieses Lächeln von ihr gelernt hatte. Mit ihr.
11
Da er nicht wusste, welche Zeit am Morgen Lucy als „früh“ bezeichnete, traf Cyrus pünktlich um fünf Uhr an den Stallungen ein, die hinter dem Haus seiner einstigen Verlobten lagen. Es dauerte nur einen Moment, einen Reitknecht zu bestechen, damit er sein Pferd in eine leere Box führte, dann setzte er sich und wartete, bis ein Lakai der Towertons Lucys Stute bestellte.
Sobald der Lakai gekommen war, gedachte Cyrus zum Haupteingang auf der Grosvenor Road zu gehen und den Eindruck zu erwecken, als wäre er nur vorbeigekommen, um Lucy ihr Réticule zu geben. Was sie natürlich nicht glauben würde, aber wenn er zu einem förmlichen Besuch vorspräche, wäre er ganz gewiss nicht willkommen.
Lady Towerton hatte nicht einmal höfliches Bedauern über die gelöste Verlobung geäußert. Sie hatte ihn nur zähnefletschend angegrinst.
Cyrus saß auf einem Strohballen und zog ein Bündel Papiere aus seiner Tasche: Es waren Zahlen, die sich auf eine Wollfabrik in
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