Das Maya-Ritual
heftigen Winden für widrige Bedingungen im Freien.
Als ich im Morgengrauen von Cancun aufbrach, wusste ich nichts vom Wetter, das zweihundert Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Halbinsel herrschte, aber nachdem ich ein Stück ins Landesinnere gefahren war, musste ich in dem Halbdunkel, das sich nicht aufhellen wollte, die Scheinwerfer des Land Cruisers einschalten. Ich fand einen lokalen Radiosender und erfuhr von dem Sturm, als eben die ersten losen Teile der Urwaldvegetation über die Straße segelten und gegen die Windschutzscheibe krachten. Es gab außerdem Meldungen über die sich verschlechternden Beziehungen zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten, wobei der amerikanische Verteidigungsminister das hiesige Militär einer Mittäterschaft am Tod der Studenten beschuldigte.
Rund vierzig Kilometer von Chichen Itza entfernt steuerte ich auf dem Highway 180 eine Tankstelle an, als das Radio meldete, dass Inlandsflüge mit Ziel Mérida nach Campeche an der Westküste umgeleitet wurden. Ich hatte also Glück gehabt mit meiner Entscheidung, zu fahren, statt zu fliegen. Ich fragte mich, ob der Flug meines Vaters nach Tampa dem Sturm ausweichen konnte. Als ich den Kassenraum betrat, sah ich auf einem Fernsehgerät oben in einer Ecke, wie der Sprecher des Wetterberichts auf eine Computeranimation deutete. Sie zeigte den Sturm, der nun quer über den Golf auf Florida zurotierte wie eine Bowlingkugel auf einen Kegel. Es war sehr gut möglich, dass der Flug meines Vaters verspätet startete oder umgeleitet wurde.
Die Tankstelle lag in der Nähe des Zenote Dzitnup, und auf dem Weg zur Toilette sah ich ein großes Schild, das für die bei Badegästen und Tauchern beliebte Attraktion warb. Doch quer über das Plakat war der Vermerk GESCHLOSSEN geklebt. Ich nahm an, wegen des Sturms.
»El tormenta?«, fragte ich den Angestellten auf dem Rückweg und deutete auf das Schild.
Er zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, dass es am Wetter liegt, Senorita. Der Zenote ist schon seit über einer Woche für Besucher gesperrt.«
Ich kaufte zwei Bananen und Wasser für die Fahrt und dankte dem Mann. Mir fiel Sanchez’ Reaktion wieder ein, als ich den Zenote Dzitnup in Zusammenhang mit den Touristen erwähnte, die ich angeblich im Hotel Itza getroffen hatte. Wenn ich gesagt hätte, sie seien dort zu Besuch gewesen, hätte er einen Beweis dafür gehabt, dass ich log.
Auf der Weiterfahrt, während ich herabgefallenen Ästen und Regenwassertümpeln, die sich am Straßenrand gebildet hatten, ausweichen musste, stellte ich einige Berechnungen an. Dzitnup lag vierzig Kilometer vom Heiligen Brunnen entfernt. Es war etwa seit der Zeit geschlossen, als Ken und ich in Chichen Itza getaucht waren. War vielleicht Dzitnup der Ursprung des Problems? Wie floss das Wasser im unterirdischen System Yukatans? Zum Meer natürlich, aber von Süd nach Nord oder von West nach Ost? Oder in die Richtung, in die ich mich gerade bewegte, also von Ost nach West, zum Golf von Mexiko? Die Messe hatte bereits angefangen, als ich in einer Seitenstraße in der Nähe der Kathedrale parkte. Ich trug Jeans und eine weiße Bluse mit einer marineblauen Jacke und einem dunkelblauen seidenen Kopftuch. Es gab nur noch Stehplätze im hinteren Teil der Kathedrale, die Alfredo zufolge mit mehr als vierhundert Jahren der älteste Dom auf dem amerikanischen Kontinent war. Mit einer Mischung aus Stolz und Trauer erklärte er außerdem, dass sie aus den Steinen einer zerstörten Mayastadt erbaut worden war. Die hohe Gewölbedecke sah aus wie ein Waffeleisengitter aus weißem Stuck, hinter dem Hochalter war eine gewaltige Kreuzigungsszene zu sehen, die Gestalt Christi darauf in ein Tuch gehüllt, das wie ein huipil bestickt war. Eine weitere Mahnung an das Mayaerbe der Kirche war der süße Duft des Kopalweihrauchs, eine Andachtshilfe, die es zwar schon vor der Ankunft des Christentums gegeben hatte, die sich aber mühelos in das katholische Ritual einfügte.
Der Priester bezog sich am Ende der Messe auf den Weihrauch, als er für die Seele von Dr. de Valdivia betete und den Tod und das Weiterleben danach mit der Verwandlung des aus dem Kopalbaum gewonnenen Harzes in parfümierten Rauch verglich - die Verwandlung irdischer Substanz in die Seele des Verschiedenen. Ich dachte, ein Schmetterling wäre angemessener für Dr. de Valdivia gewesen, der ironischerweise in Chichen Itza den Tod gefunden hatte.
Als der Sarg den Gang entlanggerollt wurde, sah ich die Familie,
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