Das Maya-Ritual
Dann fiel mir ein, dass ihr Bruder in der Tourismusbranche tätig war. Was, wenn die Kidnapper das herausfanden? Würde es Deirdres Lage erschweren?
Vielleicht sollte ich überhaupt mit Dermot Kontakt aufnehmen und ihm erzählen, was ich vermutete. Dann wäre ihre Familie zumindest eingeweiht, und Dermot würde auch wissen, wie lange es sich noch empfahl zu warten, bis man seiner Mutter und Bonnie Bescheid sagte.
Aber ich hatte keine Nummer von Dermot, es sei denn… Auf dem Weg nach unten hörte ich die Läden an den Fenstern und Türen im Geschäft rattern. Ich schaltete das Licht an und stellte fest, dass Kathy und ihre Helfer das Chaos aufgeräumt hatten, wobei sich jetzt manche Sachen an ungewöhnlichen Plätzen befanden, sodass der Laden gespenstisch fremd auf mich wirkte.
Auf der Theke neben der Kasse lag ein ordentlicher Stapel Blätter und Zettel, die zuvor über den Boden verteilt gewesen waren. Ich klaubte sie durch und fand die Seite aus Deirdres Block, auf der sie die Telefonnummer ihres Bruders notiert hatte. Die Vorwahl war mir unbekannt, vermutlich war es eine Mobilnummer.
Dermot meldete sich sofort. »Ja?«
Dass er sich so kurz angebunden meldete, brachte mich momentan aus dem Konzept. Es klang, als hätte er einen Anruf erwartet, aber von jemand anderem.
»Ist dort Dermot O’Kelly, Deirdres Bruder?«
»Ja. Mit wem spreche ich?«
Sein Tonfall war beinahe feindselig.
»Ich bin Jessica Madison, die Freundin deiner Schwester.«
»Ach so. Du rufst sicher aus Mexiko an. Wie geht es dir, Jessica?« Er hatte seine aggressive Art rasch fallen lassen, allerdings erinnerte ich mich jetzt, dass es mir auch während unserer kurzen Begegnung in Irland schien, als wäre er genauso launisch wie Deirdre, nur ohne ihre versöhnlichen Züge.
»Mir geht es gut. Aber ich mache mir große Sorgen wegen Deirdre.«
»Ach ja?«
Ich erklärte kurz und ohne den Hintergrund auszumalen. Haus durchwühlt. Boot weg. Deirdres Nachricht.
»Hast du die Polizei benachrichtigt?«
Was sollte ich sagen? »Äh… ich habe die Bundespolizei in Kenntnis gesetzt. So eine Art mexikanisches FBI. Hier spielen sich ein paar merkwürdige Dinge ab, auf die ich jetzt nicht eingehen kann, und es würde nur alles komplizieren, wenn ich die örtliche Polizei einschaltete.«
»Na gut, das musst du wissen.«
»Natürlich besteht auch noch immer die Möglichkeit, dass Deirdre und ein Student namens Alfredo, der für mich arbeitet, in Cancun sind, dass sie wegen des Hurrikans nicht auf die Insel zurückkönnen und aus demselben Grund vielleicht auch nicht anrufen konnten.« Noch als ich es sagte, kam mir zu Bewusstsein, dass Cancun im Augenblick nicht gerade der beste Aufenthaltsort war. »In diesem Fall wäre es unnötig, eure Mutter zu alarmieren. Ich schlage vor, wir warten noch bis morgen früh, bevor wir mit ihr Kontakt aufnehmen.«
»Gut. Ruf mich so oder so morgen früh an.«
»Noch etwas. Du bist doch im Tourismusgeschäft, oder?«
»Äh… ja.«
»Hast du bei deiner Arbeit mit Yukatan zu tun?«
»Äh… nein, überhaupt nicht. Wieso?«
»War nur so eine Frage«, sagte ich und legte auf. Ich wollte ihn nicht unnötig beunruhigen.
Auf dem Rückweg nach oben löschte ich die Lichter und fühlte mich plötzlich sehr allein und verwundbar. Selbst Dermots Stimme, so schroff sie geklungen hatte, war eine Art Gesellschaft gewesen. Aber nun hatte ich das Gefühl, isoliert, durch die Elemente vom Rest der Menschheit abgeschnitten zu sein.
Als ich das Wohnzimmer betrat, erleuchtete ein Blitz das Mattglas der Terrassentür, und augenblicklich folgte ein explosionsartiger Donnerschlag über dem Dach. Er war so gewaltig, dass ich dachte, die Decke würde herunterkrachen, aber stattdessen schien er die Windgeschwindigkeit draußen zu beschleunigen, denn als Nächstes hörte ich, wie direkt neben der Tür ein schwerer Gegenstand an die Hauswand knallte. Dem Geräusch nach hatte die Bö gerade den schweren Holztisch unter dem Sonnendach hervorgeschleudert.
Mein Adrenalin hielt mich wach, als ich mich wieder niederließ, um das zweite Kuvert in Dr. de Valdivias Aktenkoffer durchzusehen, das eine Auswahl von Briefen und medizinischen Gutachten enthielt. Das Material schien größtenteils von praktischen Ärzten oder Kliniken zu stammen. Es war unverkennbar, worum es ging - Krankheitsfälle, Beschreibungen von Symptomen, Einzelheiten zu Hintergrund und Krankengeschichte von Patienten und Autopsieberichte. Vor mir lag eine Chronik des
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