Das Maya-Ritual
wählte mich zu NACHRICHTEN vor und ließ mir die einzige zeigen, die aufgelistet war.
BITTE RÜCKRUF. DRINGEND! Deirdre hatte Alfredo dieselbe Nachricht geschickt wie mir.
40
Der Hurrikan kam um die Spitze der Halbinsel Yukatan gerast. Vom Wohnzimmer aus hörte ich den Wind über das Dach heulen und die Wellen gegen die Felsen unterhalb der Terrasse donnern.
Dabei blieb San Miguel auf der geschützten Westseite der Insel die volle Wut der Winde erspart, die an Cozumel vorbei auf Zentralamerika zufegten. Ich konnte mir die gewaltigen Sturzseen vorstellen, die über die ungeschützten und größtenteils unbewohnten Strande der Ostseite hereinbrachen. Die Insel war so flach, dass das Meer bei einem Sturm bis in den Dschungel vordrang.
Ich betete, dass Deirdre und Alfredo irgendwo an Land in Sicherheit waren. Es sah aus, als seien sie beide entführt worden, als hätte Alfredo auf Deirdres Notruf reagiert, ohne die Art der Gefahr zu kennen, und sich dann einer hoffnungslosen Übermacht gegenübergesehen.
Es war schon nach elf, und ich war müde nach dem vielen Herumfahren, aber ich wusste, ich würde vor Sorge nicht schlafen können, deshalb machte ich es mir auf einer Couch im Wohnzimmer bequem, Taschenlampe, Kerze und eine Schachtel Streichhölzer auf dem Tisch neben mir, und öffnete Dr. de Valdivias Aktenkoffer. Auch mein Handy lag in Reichweite, für den Fall, dass Deirdre oder Alfredo anriefen.
Ich fand zwei schmale Publikationen, leuchtend rote Taschenbücher, beide von Dr. de Valdivia verfasst und beide in Spanisch. Bei der einen handelte es sich um eine Monografie über die Geschichte der Mayaaufstände seit dem Ausbruch des Krieges der Kasten, jener Rebellion, bei der Mérida beinahe gefallen wäre, wie Bartolomé erzählt hatte. Die andere trug den Titel Krankheit und der Verfall der postklassischen Mayazivilisation und war ein illustrierter Bericht, der Strichzeichnungen von Hieroglyphen aus verschiedenen Ruinenstädten in den Mittelpunkt stellte. Ihm hatte Dr. de Valdivia einige gefaltete handschriftliche Seiten beigelegt, dem Anschein nach zusätzliches Material zum selben Thema.
Unter den beiden Publikationen lagen zwei prallvolle, braune Kuverts. Das eine enthielt getippte Manuskripte, handschriftliche Notizen, Reiberdrucke von Hieroglyphen und Strichzeichnungen. Bei dem anderen Umschlag schien es sich vorwiegend um Korrespondenz zu handeln, der medizinische Dokumente beigefügt waren. Zwischen den beiden Kuverts steckte eine runde Plastikscheibe, ähnlich einer Planisphäre mit einer flachen Spindel in der Mitte und drei übereinander gelagerten Rädern von abgestufter Größe, die an den Rändern jeweils Markierungen aufwiesen. Es war ein Gerät zur Entschlüsselung von Kalenderdaten der Maya.
Zuletzt fand sich noch ein Dokument in einer alten Lederhülle, die ich als Jaguarhaut erkannte, denn obwohl alle Haare wegrasiert waren, ließ sich das Fleckenmuster noch erkennen. Es war das Leporello, einer der heiligen Texte der Cruzob.
Nachdem ich es vorsichtig zur Seite gelegt hatte, blätterte ich das Buch über Krankheit und Niedergang durch. Es fasste die Geschichte der Maya seit etwa 2000 v. Chr. zusammen und erklärte, wie sie Stadtstaaten gegründet hatten, die im Lauf der Zeit blühten und vergingen, hauptsächlich im heutigen Guatemala, El Salvador und Belize, in Chiapas und dem südlichen Yukatan. Das Buch stellte die Theorie auf, dass Überbevölkerung, Anbaumethoden, die dem Land seine Nährstoffe entzogen, und lange Dürren dazu geführt hätten, dass regelmäßig Städte aufgegeben und neue gegründet wurden.
Was Dr. de Valdivia jedoch am meisten beschäftigt hatte, war die späte Blütezeit von Orten wie Chichen Itza im scheinbar wasserlosen Tiefland von Yukatan. Diese Region hatte nach dem Zerfall des Stadtstaates Tikal 800 n. Chr. aufzublühen begonnen. Aber Dr. de Valdivia zufolge erzählten spätere Schnitzereien in verschiedenen Zentren die Geschichte einer Krankheit, die auf Zeiten folgte, in denen es lange nicht geregnet hatte - dabei musste es sich nicht notwendigerweise um Dürreperioden handeln. Denn sooft auch im restlichen Mexiko Trinkwasser und Wasser für die Felder knapp wurden - in Yukatan schien das nie der Fall zu sein. Doch wie Bartolomé erklärt hatte, war es ein faustischer Pakt, und der Preis war eine Krankheit namens Amhakimil.
Große Ausbrüche schienen sich in Intervallen von zweihundert Jahren zu ereignen, dazwischen gab es jeweils mehrere kleinere
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