Das mechanische Herz
breitete sich am Fuß des Berges Ondinium aus. Hier wohnte die Kaste der Famulaten: Bergleute, Metallarbeiter, Ingenieure, Schmiede und alle möglichen anderen Handwerker. Dazu kamen ein paar Ausländer, die es geschafft hatten, eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis zu erwerben, und Besucher, die sich in der Stadt aufhielten, weil sie geschäftlich hier zu tun hatten oder sie sich einfach aus reiner Neugier einmal ansehen wollten. In Tertius wurde es nie richtig hell. Selbst tagsüber lagen die Straßen im Schatten der Drahtfährentürme und Stützträger, die den Gipfel mit einem Metallnetz umspannten. Dazu kam der Smogteppich, für den der Ausstoß aus den Fabrikschloten sorgte. Der Himmel über Tertius sah eigentlich immer kränklich-gelblich aus, und alles hier war mit einer dünnen Rußschicht überzogen.
Als Taya hochblickte, konnte sie keinen einzigen Stern erkennen, lediglich die Lichter Primus ’ und Secundus ’ . Nach Tertius zurückzukehren versetzte ihr jedesmal einen Stich. Sie merkte dann, wie sehr sie sich noch nostalgisch nach all den Dingen und Gerüchen sehnte, die sie im Alter von sieben Jahren hinter sich gelassen hatte. Aber ihr Vater hatte recht, sie gehörte hier nicht mehr hin. Als Ikarierin bewegte sie sich frei zwischen allen Kasten, ohne richtig zu einer von ihnen zu gehören. Eine gesellschaftliche Stellung, die einerseits unglaublich befreiend sein, andererseits aber auch Unbehagen verursachen konnte.
Tief sog sie die verrauchte, nach Metall schmeckende Luft in die Lunge, während sie durch enge, grob gepflasterte Straßen auf den großen Markt zuging. Als Kind war ihr nie aufgefallen, wie dreckig Tertius war, wie ungepflegt hier alles wirkte.
Die Große Maschine sorgte dafür, dass in Ondinium niemand verhungerte. Aber wenn man sich jeden Tag frei zwischen der produzierenden Ebene der Stadt und dem Luxus des Oporphyrturms bewegte, blieben einem die großen Unterschiede im Leben der Menschen nicht verborgen.
„Trotzdem lebt man in Ondinium besser als in den meisten anderen Ländern“, dachte Taya. Gut, die Stadt mochte dreckig und überbevölkert sein, aber sie persönlich atmete lieber ein bisschen Ruß ein, als jeden Tag ihr Abendbrot erst einmal erlegen und abhäuten zu müssen, wie die Bewohner des benachbarten Demikus.
Natürlich hatte die Zivilisation ihren Preis, sie bot aber auch Vorteile.
Tief in Gedanken versunken wollte Taya gerade unter dem breiten Bogen einer Fußgängerbrücke hindurchgehen, auf der sie als Kind oft gespielt hatte, als sie hinter sich auf dem Kopfsteinpflaster Schritte hörte.
Sie wandte sich um.
Etwa fünf Meter hinter ihr tauchten im Schein einer Gaslaterne zwei Männer auf. Der eine ein großer, blonder Demikaner in der schlichten, grobgewebten Kleidung seines Landes, der andere, kleiner und stämmiger, trug die helle Weste eines Alzaners. Beider Gesicht war nackt, ohne Kastenzeichen, es handelte sich also um Ausländer.
„Kann ich euch helfen?“ Taya bemühte sich um einen ruhigen, selbstbewussten Ton, während ihr Blick suchend zum Himmel hinaufglitt. Der Weg dorthin stand offen, nur hatte sie lange keinen Start vom flachen Gelände aus mehr gewagt, wo man rennen musste, bis man Aufwind bekam. Außerdem musste sie, wenn sie jetzt fliegen wollte, die Arme in die Flügelhalterung stecken, hätte also keine Hand mehr frei. So verletzlich wollte sie sich erst machen, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden ließ.
„Wir haben uns verirrt, Ikara“, sagte der Alzaner, der offensichtlich Mühe hatte, sich auf Ondinisch zu verständigen. „Wie kommen wir zum Gasthaus ,Beim blauen Baum ‘ ?“
Das Gasthaus „Beim blauen Baum“ war eine noble Herberge, viel zu vornehm für diese beiden. Vielleicht waren sie mit jemandem verabredet? Taya wollte erst einmal nach allen Seiten hin offen bleiben, nicht gleich zu ängstlich und misstrauisch reagieren.
„Vielleicht ist das einer dieser heimlichen Tests der Prüfungskommission!“, schoss es ihr durch den Kopf.
„Ihr findet das Gasthaus in Sekundus, in der Jasperstraße“, antwortete sie höflich auf Alzanisch. „Die Brücke hier führt hoch nach Sekundus. Ihr könnt die Wache am Sektorentor nach dem Weg zum Gasthaus fragen. Beeilt euch lieber, das Tor schließt um Mitternacht.“
„Meinst du die Brücke hier?“ Der Alzaner verrenkte den Hals und trat ein paar Schritte vor, dicht gefolgt von seinem Begleiter, dessen Miene so starr und unbeweglich blieb, wie es in seinem Land allgemein
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