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Das Meer Der Lügen: Ein Lord-John-Roman

Titel: Das Meer Der Lügen: Ein Lord-John-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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Wen kümmerten schließlich Schuhe oder Strümpfe?
    Oben an Deck erklang ein Ruf, der sogar die dicken Planken durchdrang, und Tom ließ die Nadel fallen und starrte hinauf. Die meisten Rufe aus der Takelage waren für Grey unverständlich, doch die Worte, die jetzt erschollen, waren glockenklar.
    »Schiff ahoi!«
    Er stürzte sich aus der Hängematte und rannte zur Leiter, dicht gefolgt von Tom.
    Eine Masse von Männern stand an der Reling, die Köpfe nach Norden gerichtet, und aus den Gesichtern mehrerer Schiffsoffiziere ragten Teleskope hervor wie die Antennen einer Horde gieriger Insekten. Grey selbst konnte nicht mehr als einen winzigen Segelklecks am Horizont sehen, unbedeutend wie ein Papierschnipsel - aber unauslöschlich da.
    »Hol mich doch der Teufel«, sagte Grey, erregt trotz der Warnungen seines Verstandes. »Fährt es Richtung England?«
    »Kann ich nicht sagen.« Der Teleskopbesitzer neben ihm ließ sein Instrument sinken und schob es ordentlich zusammen. »Auf jeden Fall aber nach Europa.«
    Grey trat zurück und suchte in der Menge nach Trevelyan, doch er war nirgendwo in Sicht. Scanlon war jedoch da. Er fing den Blick des Mannes auf, und der Apotheker nickte.

    »Ich gehe sofort, Sir«, sagte er und schritt auf die Luke zu.
    Etwas spät kam Grey der Gedanke, dass er mitgehen sollte, um Scanlons Argumenten gegenüber Trevelyan und dem Kapitän mehr Gewicht zu verleihen. Er konnte es kaum ertragen, das Deck zu verlassen, aus Angst, das winzige Segel könnte für immer verschwinden, sobald er den Blick davon abwendete. Aber die plötzliche Hoffnung auf Befreiung war zu stark, um sich unterdrücken zu lassen. Er klopfte mit der Hand an seine Seite, doch natürlich trug er seinen Rock nicht; sein Brief war unter Deck.
    Er schoss auf die Luke zu und war die Leiter schon halb hinuntergestiegen, als er sich den ausholenden, nackten Fuß an der Wand stieß. Er schwankte, suchte nach Halt, fand ihn - doch seine verschwitzte Hand rutschte am polierten Geländer ab, und er stürzte zweieinhalb Meter tief auf das Unterdeck. Etwas Festes schlug gegen seinen Kopf, und Schwärze überkam ihn.
     
    Er erwachte langsam und fragte sich im ersten Moment, ob man ihn aus Versehen in einen Sarg gelegt hatte. Er war von gedämpftem, flackerndem Licht wie von einer Kerze umgeben, und fünf Zentimeter vor seiner Nase war eine Holzwand. Dann regte er sich, drehte sich auf den Rücken und stellte fest, dass er in einer winzigen Koje lag, die an der Wand befestigt war wie eine Werkzeugkiste und gerade so lang war, dass er sich ganz darin ausstrecken konnte.
    Ein großes Prismenfenster, das über ihm in die Decke eingelassen war, ließ das Licht vom Oberdeck herein; als
sich seine Augen daran gewöhnt hatten, sah er einige Wandborde über einem Miniaturschreibtisch hängen und schloss aus ihrem Inhalt, dass er sich in der Kabine des Proviantmeisters befand. Dann wanderten seine Augen nach links, und er stellte fest, dass er nicht allein war.
    Jack Byrd saß auf einem Hocker neben seiner Koje, die Arme gemütlich verschränkt, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Als er sah, dass Grey erwacht war, streckte er die Arme und stand auf.
    »Seid Ihr wohlauf, Mylord?«
    »Ja«, erwiderte Grey automatisch und überprüfte erst dann, ob es auch stimmte.
    Glücklicherweise schien es so zu sein. An der Stelle, wo er sich an der Leiter gestoßen hatte, hatte er eine empfindliche Beule hinter dem Ohr, und er hatte ein paar blaue Flecken, aber nichts, was ernst gewesen wäre.
    »Das ist gut. Der Schiffsarzt und Mr. Scanlon haben beide gesagt, dass Euch nichts passiert ist, aber Tom hat nicht zugelassen, dass man Euch allein ließ, nur zur Vorsicht.«
    »Dann seid Ihr also hier, um Wache zu halten? Das war nicht nötig, aber ich danke Euch.« Grey bewegte sich, um sich hinzusetzen, und bemerkte ein warmes, weiches Gewicht neben ihm im Bett. Die Katze des Proviantmeisters, ein kleiner Tiger, hatte sich wie ein Apostroph an seiner Seite zusammengerollt und schnurrte sanft vor sich hin.
    »Nun, Ihr hattet ja schon Gesellschaft«, sagte Jack mit einem Lächeln und wies kopfnickend auf die Katze. »Aber Tom war nicht davon abzubringen, ebenfalls zu bleiben - ich glaube, er hatte Angst, es könnte jemand kommen und Euch in der Nacht ein Messer zwischen die
Rippen jagen. Ein argwöhnischer kleiner Kerl, dieser Tom.«
    »Ich würde sagen, er hat auch allen Grund dazu«, erwiderte Grey trocken. »Wo ist er jetzt?«
    »Er schläft. Es dämmert gerade.

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