Das Meer Der Lügen: Ein Lord-John-Roman
den neuen Standort des Regiments ausgenutzt, nicht wahr? Stubbs hat mir nach dem Essen erzählt, er habe von DeVries gehört, dass wir definitiv wieder nach Frankreich geschickt würden - wahrscheinlich nach Calais. Ich nehme an, das war eine Finte, die O’Connells wegen gelegt wurde?«
Quarry sah ihn ausdruckslos an.
»Gab keine offizielle Verlautbarung, oder?«
»Nein. Und wir können davon ausgehen, dass das Zusammenfallen
einer solchen inoffiziellen Entscheidung mit Sergeant O’Connells plötzlichem Ableben hinreichend, äh … interessant ist?«
»Geschmackssache, würde ich sagen«, sagte Quarry mit einem erneuten tiefen Seufzer. »Ich würde es ein verflixtes Ärgernis nennen.«
Der Bedienstete kam lautlos wieder in das Zimmer und trug einen Humidor in der einen Hand, einen Pfeifenständer in der anderen. Die Zeit des Abendessens ging zu Ende, und jene Mitglieder, die gern ein Verdauungspfeifchen rauchten, würden in Kürze den Flur entlangkommen, um ihre Pfeifen an sich zu nehmen und sich auf ihrem Lieblingssessel niederzulassen.
Grey saß einen Augenblick stirnrunzelnd da.
»Warum ist der… fragliche Gentleman denn… unter Verdacht geraten?«
»Erratet Ihr das denn nicht selbst?« Quarry zog eine Schulter hoch und ließ es im Unklaren, ob seine Schweigsamkeit in seinem eigenen Unwissen oder in offizieller Diskretion begründet lag.
»Verstehe. Dann ist mein Bruder also vielleicht in Frankreich - und vielleicht auch nicht?«
Ein schwaches Lächeln ließ die weiße Narbe auf Quarrys Wange zucken.
»Das müsst Ihr doch besser wissen als ich, Grey.«
Der Bedienstete war wieder aus dem Zimmer gegangen, um die anderen Humidore zu holen; mehrere Clubmitglieder bewahrten ihre persönlichen Tabak- und Schnupftabakmischungen hier auf. Er konnte schon hören, wie im Speisezimmer die Nachtisch-Gespräche lauter wurden. Grey beugte sich vor, bereit aufzustehen.
»Aber Ihr habt ihn natürlich beschatten lassen - O’Connell. Jemand muss ihn in London genau beobachtet haben.«
»Oh, ja.« Quarry schüttelte sich, um seine Kleider ansatzhaft zu ordnen, strich sich die Asche von den Knien seiner Hose und zog seine zerknitterte Weste glatt. »Hal hat einen Mann gefunden. Sehr diskret und in guter Position. Einen Dienstboten, der bei einem Freund der Familie angestellt ist - das heißt, Eurer Familie.«
»Und dieser Freund ist -?«
»Der Ehrenwerte Joseph Trevelyan.« Quarry stand umständlich auf und ging als Erster aus dem Raucherzimmer. Grey blieb es überlassen, ihm nach bestem Vermögen zu folgen, während ihm mehr als nur der Tabakqualm die Sinne betäubte.
Auf grauenhafte Weise war das Ganze einleuchtend, dachte er, während er Quarry zum Ausgang folgte. Trevelyans und Greys Familien standen seit zwei Jahrhunderten in enger Verbindung, und zum Teil war es Joseph Trevelyans Freundschaft mit Hal, die überhaupt zu seiner Verlobung mit Olivia geführt hatte.
Es war keine enge Freundschaft; eine, die in gemeinsamen Bekannten, Clubs und politischen Interessen begründet lag, nicht aber in persönlicher Zuneigung. Dennoch, wenn Hal auf der Suche nach einem diskreten Mann war, den er auf O’Connells Spur ansetzen konnte, hatte er außerhalb der Armee suchen müssen - denn wer wusste schon, mit wem sich O’Connell zusammengetan hatte, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Regiments? Also hatte er offenbar seinen Freund Trevelyan
angesprochen, der ihm seinen eigenen Dienstboten empfohlen hatte… und es war einfach nur perfide Ironie, dass er, Grey, gerade jetzt wiederum gezwungen war, sich in Trevelyans Privatangelegenheiten einzumischen.
Vor dem »Beefsteak« hatte der Türsteher eine Mietdroschke angehalten; Quarry war bereits eingestiegen und winkte Grey ungeduldig.
»Kommt schon, kommt schon! Ich verhungere. Wir fahren zu Kettrick’s, ja? Da machen sie eine exzellente Aalpastete. Darauf hätte ich jetzt Lust, und vielleicht ein oder zwei Eimer Starkbier dazu. Um den Qualm herunterzuspülen, was?«
Grey nickte und legte seinen Hut neben sich auf den Sitz, damit er nicht zerdrückt wurde. Quarry steckte den Kopf zum Fenster hinaus und rief dem Fahrer etwas zu, dann zog er ihn ein und ließ sich seufzend auf die schmutzigen Polster sinken.
»Also«, fuhr Quarry mit etwas lauterer Stimme fort, um sich im Rattern und Quietschen der Kutsche Gehör zu verschaffen, »dieser Mann, Trevelyans Dienstbote - Byrd ist sein Name, Jack Byrd -, hat ein Zimmer gegenüber der Schlampe gemietet, mit der
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