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Das Meer Der Lügen: Ein Lord-John-Roman

Titel: Das Meer Der Lügen: Ein Lord-John-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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dann schnellte er erschöpft wieder an seinen Platz. Er legte John eine Hand auf die Schulter und drückte fest zu; John hatte das merkwürdige Gefühl, als stütze er seinen Bruder und nicht umgekehrt.
    »Vergiss nicht, Johnny - es ist eine Gnade, die du ihnen erweist. Eine Gnade«, wiederholte er leise, dann ließ er seine Hand sinken und ging.
    Es fehlten noch etwa zwei Stunden bis zum Sonnenuntergang, als Korporal Windoms Trupp sich zum Schlachtfeld in Bewegung setzte, ein mühsamer Marsch durch Schlamm und Moorpflanzen, die sich im Vorübergehen an ihre Stiefel klammerten. Der Regen hatte aufgehört, doch ein eisiger Wind klebte ihm den feuchten Umhang an den Körper. Er erinnerte sich an die Mischung aus Entsetzen und Aufregung in seiner Magengrube, überlagert von der Taubheit in seinen Fingern und der Angst, dass er nicht mehr in der Lage sein würde, die Pistole zu laden, falls er sie öfter als einmal benutzen musste.
    Zunächst einmal brauchte er sie jedoch eine ganze Weile gar nicht zu benutzen; sämtliche Männer, an denen sie vorbeikamen, waren eindeutig tot. Fast nur Schotten, obwohl hier und dort ein roter Rock wie eine Flamme zwischen den eintönigen Moorpflanzen brannte. Die gefallenen Engländer wurden respektvoll auf Bahren davongetragen.
Die Feinde wurden auf Haufen geworfen; die Soldaten hatten blaue Finger und murmelten Flüche in ihre weißen Atemwölkchen, während sie die Leichen wie gefällte Bäume über das Feld schleiften, die nackten Gliedmaßen wie bleiche Äste, steif und schwierig zu handhaben. Er fragte sich, ob er bei dieser Arbeit helfen sollte, doch das schien niemand von ihm zu erwarten; er schlich hinter den Soldaten her, das Schießeisen in der Hand, während ihm mit jeder Minute kälter wurde.
    Er hatte schon öfter Schlachtfelder gesehen, in Preston und Falkirk, wenn auch auf keinem davon so viele Leichen gelegen hatten. Doch eine Leiche glich der anderen, und innerhalb kurzer Zeit machten sie ihm nichts mehr aus.
    Er war so abgestumpft, dass er kaum auffuhr, als einer der Soldaten rief: »Hey, Kleiner, ich hab’ einen für dich!« Sein von der Kälte verlangsamter Verstand hatte keine Zeit gehabt, diese Worte zu interpretieren, als er sich dem Mann, dem Schotten, auch schon gegenübersah.
    Er war irgendwie davon ausgegangen, dass jedermann auf dem Feld bewusstlos war, wenn nicht tot; dass die Exekution nicht mehr sein würde als ein Niederknien neben dem Körper, Anlegen der Pistole, abdrücken, zurücktreten und neu laden.
    Der Mann saß kerzengerade zwischen den Heidesträuchern, das Gewicht auf seine Handflächen gestützt, das zerschmetterte Bein, das seine Flucht verhinderte, verdreht und mit Blut verschmiert vor seinem Körper. Er starrte Grey an, die dunklen Augen lebhaft und wachsam. Er war jung, vielleicht in Hectors Alter. Die Augen wanderten von Greys Gesicht zu der Pistole in seiner Hand,
dann wieder zu seinem Gesicht. Der Mann hob das Kinn und presste die Lippen fest zusammen.
    Hinter dem Ohr geht es auch, wenn du merkst, dass du den Schuss ins Auge nicht ertragen kannst.
    Wie? Wie sollte er an die Stelle hinter dem Ohr kommen, wenn der Mann so dasaß? Grey hob ungeschickt die Pistole, trat zur Seite und ging etwas in die Knie. Der Mann wandte den Kopf, seine Augen folgten ihm.
    Grey hielt inne - doch er konnte nicht innehalten, die Soldaten beobachteten ihn.
    »K-kopf oder Herz?«, fragte er und versuchte, seine Stimme unter Kontrolle zu behalten. Seine Hände zitterten; es war ja kalt, so furchtbar kalt.
    Die dunklen Augen schlossen sich kurz, dann öffneten sie sich wieder und durchbohrten ihn.
    »Himmel, soll mich das kümmern?«
    Er hob die Pistole, deren Mündung leicht wackelte, und zielte sorgfältig auf die Körpermitte des Mannes. Der Mund des Schotten presste sich zusammen, und er verlagerte das Gewicht auf eine Hand. Bevor Grey zurückfahren konnte, hatte er seine freie Hand erhoben, um Greys Handgelenk zu packen.
    Dieser erschrak und versuchte erst gar nicht, seine Hand wegzuziehen. Schwer atmend vor Anstrengung, die Zähne vor Schmerz zusammengebissen, führte der Schotte den Pistolenlauf, bis er an seiner Stirn ruhte, genau zwischen den Augen. Und starrte ihn an.
    Seine klarste Erinnerung waren nicht die Augen, sondern die Finger, die sich, kälter noch als seine eigene, eisige Haut sanft um sein Handgelenk schlossen. Es lag jetzt keine Kraft mehr in der Berührung, doch sie brachte sein
Zittern zur Ruhe. Die Finger drückten ganz sanft zu.

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