Das Meer Der Lügen: Ein Lord-John-Roman
voller Pragmatismus, der nur ganz schwach mit Bedauern durchsetzt war.
»Er ist ein Dutzend Jahre älter als sie; es wäre nicht nur ungewöhnlich, sondern sogar hochgradig bemerkenswert, wenn er nicht schon mehrere Mätressen gehabt hätte. Männer in deinem Alter haben nun einmal ihre Affären.« Sie senkte kurz die Wimpern als sanfte Anspielung auf den vertuschten Skandal, der für seine Versetzung ins schottische Exil nach Ardsmuir gesorgt hatte.
»Ich möchte doch hoffen, dass diese Ehe ihn dazu bewegt, derartige Liaisonen aufzugeben, doch wenn nicht …« Sie zuckte mit den Achseln und ließ plötzlich müde die Schultern hängen. »Dann vertraue ich darauf, dass er sich diskret verhält.«
Zum ersten Mal kam Grey auf den Gedanken sich zu fragen, ob entweder sein Vater oder ihr erster Mann, Hauptmann DeVane … aber dies war nicht der Zeitpunkt für derartige Spekulationen.
»Ich bin mir sicher, dass sich Mr. Trevelyan höchst diskret verhält«, sagte er mit einem kleinen Räuspern. »Ich habe mich nur gefragt, ob … ob es Livy das Herz brechen würde, sollte … irgendetwas vorfallen.« Er hatte seine Cousine gern, wusste aber nur sehr wenig über sie; sie war erst bei seiner Mutter eingezogen, als er selbst bereits sein erstes Offizierspatent angenommen hatte.
»Sie ist sechzehn«, sagte seine Mutter trocken. »Signor Dante und seine Beatriz in allen Ehren, aber die meisten sechzehnjährigen Mädchen sind nicht zu großer Leidenschaft imstande. Sie glauben nur, es zu sein.«
»Also -«
»Also«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Olivia weiß nicht das Geringste über ihren zukünftigen Ehemann, außer dass er reich ist, sich gut kleidet, nicht schlecht aussieht und ihr große Aufmerksamkeit zukommen lässt. Sie weiß weder etwas über seinen Charakter noch über die wirkliche Natur einer Ehe. Und wenn sie im Augenblick ernsthaft in etwas verliebt ist, ist es ihr Hochzeitskleid.«
Bei diesen Worten verspürte Grey Erleichterung. Gleichzeitig war ihm jedoch bewusst, dass eine Absage der Hochzeit seiner Cousine leicht einen Skandal verursachen konnte, der die Kontroverse um Pitts Entlassung als Premierminister vor zwei Monaten weit in den Schatten stellen würde - und ein Skandal würde Olivia anhaften und der endgültige Ruin ihrer Aussichten auf eine anständige Partie sein.
»Ich verstehe«, sagte er. »Sollte ich also mehr herausfinden -«
»Dann solltest du es für dich behalten«, sagte seine Mutter bestimmt. »Falls sie nach der Hochzeit entdecken sollte, dass mit ihrem Mann etwas nicht stimmt, wird sie es ignorieren.«
»Manche Dinge kann man aber nur sehr schwer ignorieren, Mutter«, sagte er etwas heftiger als beabsichtigt. Sie sah ihn scharf an, und die Luft um ihn herum schien sich plötzlich zu verfestigen, als gäbe es nichts mehr zum Atmen. Ihre Augen trafen die seinen direkt und verharrten ein paar schweigende Sekunden ineinander. Dann wandte sie sich ab und legte ihren Burke beiseite.
»Wenn sie zu dem Schluss kommt, dass sie es nicht ignorieren kann«, sagte sie ungerührt, »wird sie der Überzeugung sein, dass ihr Leben ruiniert ist. Mit etwas Glück wird sie irgendwann ein Kind bekommen und feststellen, dass es nicht so ist. Kusch, Eustace.« Sie schob den dösenden Spaniel mit dem Fuß beiseite, erhob sich und warf dabei einen Blick auf die kleine Standuhr auf dem Tisch.
»Geh und forsche nach deinem deutschen Wein, John. Die verflixte Schneiderin kommt um drei zur Anprobe von Livys Kleid - ich hoffe zum absolut allerletzten Mal.«
»Ja. Aber… ja.« Er stand einen Moment verlegen da und wandte sich dann zum Gehen, blieb jedoch an der Tür des Boudoirs unvermittelt stehen und drehte sich um, weil ihm eine Frage in den Sinn kam.
»Mutter?«
»Mm?« Die Gräfin griff ziellos nach diversen Gegenständen und blickte kurzsichtig unter ihr Stickzeug.
»Siehst du meine Brille, John? Ich weiß genau, dass ich sie vorhin hatte.«
»Auf deiner Haube«, sagte er und lächelte unwillkürlich. »Mutter - wie alt warst du, als du Hauptmann DeVane geheiratet hast?«
Sie schlug sich mit einer Hand vor den Kopf, als wollte sie die verirrte Brille festhalten, bevor sie abheben konnte. Ihre Miene war unbewacht, denn sie wurde von seiner Frage überrumpelt. Er konnte sehen, wie die Wellen der Erinnerung ihre Züge überspülten, mit Glück und Bedauern versetzt. Ihre Lippen spitzten sich ein wenig und verbreiterten sich dann zu einem Lächeln.
»Fünfzehn«, sagte sie. Das kleine
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