Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
vorkamen: Fischadler, Hirsche, Adler, Bisons, Füchse, Gabelböcke und Dutzende andere.
Es war ein offener Raum mit einem Küchenbereich auf der einen Seite und einem Schlafbereich auf der anderen, alles – vermutlich – beheizt durch einen Kaminofen in der Mitte. Nur ein kleiner Waschraum war abgetrennt worden. Die Küche wirkte zwar rustikal, war aber mit modernen Annehmlichkeiten wie einer Kaffeekanne und einer Spüle, Schränken und einer Speisekammer ausgestattet, die ich alle nicht ohne fremde Hilfe würde öffnen können.
Ehe ich Zeit fand, mich selbst zu bemitleiden, drehte ich mich zur Frontseite der Hütte um und entdeckte die in die Wand eingelassenen Bücherregale. Hunderte von ledergebundenen Bänden ruhten in den dunklen Nischen. Ich hatte keine Ahnung, welche Geschichten oder Informationen sie enthielten. Es spielte keine Rolle. Ich wollte alles aufnehmen, was sie zu sagen hatten.
Nein. Meine Hände. Ich konnte nicht einmal daran denken, ein Buch zu halten, ohne dass Schmerzen meine Unterarme hinaufschossen.
KAPITEL 5
Honig
Es ließ sich nicht sagen, wie lange ich einfach in der Hütte stand und die Bücher ansah, die ich nicht berühren konnte, in Kälte und Staub und mitten im Leben eines anderen. Und umgeben von seinen Toten gleich draußen vor der Tür. Solange ich mich nicht bewegte, solange ich über nichts anderes als den Punkt unmittelbar vor mir nachdachte – den Rücken eines roten Buches –, hatte ich keine Schmerzen.
»Ana.«
Mein Blickfeld weitete sich, der Raum trat wieder in mein Bewusstsein. Das Brennen in meinen Händen und Handgelenken ebenso. Ein Stöhnen durchfuhr mich.
Sam stand vor mir, Sorge verdüsterte sein Gesicht. »Komm. Du stehst immer noch unter Schock.« Er führte mich zu einem Sessel neben dem Kamin, in dem jetzt ein Feuer brannte, und zog mir Stiefel sowie Mantel aus, wobei er besonders vorsichtig war, als die Ärmel meine Hände streiften. »Was kann ich für dich tun?«
Ich wollte einfach keine Schmerzen mehr haben. Es war besser gewesen, die Bücher anzustarren. Ich drehte mich wieder zu ihnen um und zwang mich, mich in meiner eigenen Benommenheit zu verlieren. Der Schmerz war zu stark, stärker, als ich es ertragen konnte.
Er trat vor mich hin und blieb vor dem Bücherregal stehen. »Du liest gerne.«
Hatte ich das gesagt? Hatte er es erraten? So oder so, ich bewegte mich nicht aus dem Sessel. Irgendwann würde ich es wieder in einen schmerzlosen Zustand schaffen.
Sam wählte ein Buch aus und brachte es mir, als wäre ich in der Lage, irgendetwas damit anzufangen. Aber er setzte sich neben mich auf die Armlehne des Sessels und schlug die erste Seite auf. »Also, ich schätze, du weißt, dass die Jahre eines Jahrfünfzehnts alle nach Ereignissen oder Errungenschaften der ersten Generationen benannt sind, bevor wir einen richtigen Kalender erschaffen haben?«
Ich bewegte mich nicht.
»Das Jahr der Dürre, in dem natürlich eine schreckliche Dürre herrschte. Gefolgt vom Jahr des Hungers, als im nächsten Jahr alle verhungerten.« Er zog eine Augenbraue hoch und sah mich an. »Weißt du das alles?«
Ich bewegte mich immer noch nicht. Wir befanden uns jetzt im dreihunderteinunddreißigsten Jahr des Hungers. Vielleicht würden sie es in Jahr des Erfrierens, dann Verbrennens und meistens Um-sein-Leben-Rennens umbenennen. Nach mir natürlich.
»Meine zweitliebste Geschichte ist die des Jahres der Träume, als wir versuchten, die heißen Schlammgruben zu verstehen, und alle anfingen zu halluzinieren, weil sie die Dämpfe der Gruben eingeatmet hatten.« Er blätterte mit ruhiger Hand in dem Buch, selbstsicher. Ich kämpfte darum, nicht auf seine unverbrannte Haut neidisch zu sein. »Mal sehen. Das Jahr des Tanzes.« Er blätterte einige Seiten weiter. »Das Jahr der Träume.« Seine Stimme wurde leiser, als er laut vorlas: »›Wir brachen zu einer Expedition auf, um sicherzustellen, dass die geothermischen Gegebenheiten in der Umgebung von Heart keine unmittelbare Gefahr darstellten. Natürlich waren wir von unserer Entdeckung ziemlich überrascht …‹«
Er las noch eine Stunde weiter und passte seinen Ton der Stimmung des jeweiligen Abschnitts an. Darauf verstand er sich gut, außerdem hatte mir noch nie jemand vorgelesen. Die Art, wie er sprach, zog mich in ihren Bann, bis ich mich endlich entspannte.
Irgendwann ließ der Schmerz nach.
Ich trieb in dem diffusen Zustand zwischen Wachen und Schlafen und träumte halb von einem tiefen
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