Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
haben, da ich ihn ja nie darum gebeten hatte zu reden, bis er seine Stimme verlor.
»Wirst …« Ich schluckte und versuchte es noch einmal. »Wirst du die Seiten umblättern, damit ich selbst lesen kann?« Sein schwerer Blick legte sich wie Nebel über mich. »Bitte«, flüsterte ich.
»Nein.«
Mein Herz sank. Ich hätte nicht fragen sollen.
»Nicht bevor du mir etwas über dich erzählst.«
Niemand wollte hören, was die Seelenlose zu sagen hatte. Seine Geschichten waren alle so interessant gewesen, voller Menschen und Ereignisse, die ich mir nicht hätte erträumen können. Ich hatte nichts, was sich damit vergleichen ließe. »Ich kann nicht.«
»Doch, du kannst.« Er musterte mich, als würde er all die Dinge finden, die ich ihm nicht erzählte, wenn er nur genau genug hinsah. Aber da war nichts. »Was macht dich glücklich? Was gefällt dir?«
Warum kümmerte ihn das? Wenigstens erwartete er nicht, dass ich ihm von einem großen Abenteuer erzählte. Und wenn ich ihm von etwas erzählte, das ich mochte, würde er die Seiten umblättern, damit ich weiterlesen konnte. Ein gerechter Tausch.
»Musik macht mich glücklich.« Mehr als glücklich. Mehr, als ich ihm je erklären könnte. »Ich habe in Lis Bibliothek ein Abspielgerät entdeckt und herausgefunden, wie man es einschaltet. Da war sie, Dossams Phönix-Sinfonie.« Ich konnte mich noch gut an das Gefühl im Bauch erinnern, als die ersten Töne erklangen, und dann hatte ich mich… angeschwollen gefühlt. Voll. Als sei etwas in mir endlich erwacht. »Ich liebe ihn, seine Musik.«
Nein, das stimmte nicht. Eine Seelenlose konnte nicht lieben.
Ich stand taumelnd auf und stolperte durch den Raum, aber
ich konnte nirgendwohin fliehen. Li würde mich finden. Sie würde wissen , was ich gesagt hatte. Sie würde mich schlagen und brüllen, dass eine Seelenlose nicht lieben könne. Ich war dumm gewesen, achtlos mit meinen Worten, weil der Gedanke an Musik mich entspannt hatte. Ich musste vorsichtig sein. Keine Ausrutscher mehr.
»Es tut mir leid«, flüsterte ich. »Ich meinte nicht lieben.«
Schritte näherten sich, und mein Herz pochte gegen die Rippen, als ich mich gegen den Schlag wappnete, der nicht kam.
»Ana.« Sam stand auf Armeslänge von mir entfernt, berührte mich jedoch nicht. Hatte wahrscheinlich Angst, ich würde sonst zusammenbrechen. »Empfindest du wirklich so? Dass dir bestimmte Gefühle nicht erlaubt sind?«
Ich konnte ihn nicht ansehen.
»Du bist nicht seelenlos. Du darfst fühlen, was immer du fühlst.«
Das sagte er immer wieder, und ich wollte ihm glauben, aber …
»Ich denke, wir sollten darüber reden.«
Meine Kehle schmerzte, weil ich Tränen zurückhielt. »Das möchte ich nicht.« Seine guten Absichten verwirrten mich nur.
Er berührte mich unten am Rücken. Ich machte einen Satz, aber er war so sanft. »Jemand ohne Seele hätte nicht sein Leben riskiert, um meins zu retten, vor allem, da ich – wie du sagtest – ohnehin zurückkommen würde.«
Ich trat von ihm weg. »Ich will nicht darüber sprechen.«
»Na gut.« Er wagte ein Lächeln. »Zumindest habe ich etwas über dich erfahren.«
Ich zuckte zusammen und versuchte, nicht zu zählen, was ich gerade alles gelernt hatte: Ich behauptete, Gefühle zu haben,
die ich nicht haben konnte, ich zuckte zusammen und lief weg, wenn niemand hinter mir her war …
»Du magst Musik.« Er lächelte warm. »Ich habe meinen SAK hier. Er kann Musik spielen. Ich würde ihn dir gerne leihen, wenn du darum bittest.«
Wenn ich darum bat?
Er musste mir meine Verwirrung angesehen haben, denn er strich mir eine Haarsträhne aus den Augen. »Sag die Worte. Frag.«
Meine Hände und mein Herz schmerzten. Ich wollte hinauslaufen und mich verstecken, wollte mich nie wieder damit quälen, wann ich fragen durfte und wann nicht. Ob Li auftauchen und mich dafür bestrafen würde, dass ich dachte, mir stehe irgendeine Art von Glück zu. Es war einfach zu viel , und es kam mir wie Ertrinken oder Verbrennen vor. Aber Weglaufen würde nichts ändern.
Sam hatte angeboten, mich in die Stadt zu bringen, hatte sich die letzten paar Tage heiser geredet, und er würde mir erlauben, Musik zu hören – wenn ich nur danach fragte. Ein paar Worte dafür waren doch nicht zu viel verlangt.
Ich schluckte den Kloß im Hals hinunter. »Sam, darf ich bitte Musik hören?«
»Natürlich. Ich bringe dir das Gerät.« Die Anspannung fiel von seinen Schultern ab, als hätte er tatsächlich Angst gehabt, ich
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