Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
zu raten. Er konnte alle Leute ausschließen, wie die ich mich definitiv
nicht benahm, alle Leute, die zum falschen Zeitpunkt wiedergeboren worden waren, um jetzt achtzehn zu sein, und alle Leute in meinem Alter, die er in den letzten paar Jahren gesehen hatte.
»Ich kann mich nicht daran erinnern, jemanden so beleidigt zu haben, dass er mir seinen Namen nicht anvertrauen wollte. Zumindest nicht in letzter Zeit.«
»Du kennst mich nicht.«
»Das habe ich doch gesagt. Hast du Wasser ins Gehirn bekommen?«
Es klang nicht sehr nach einem Scherz.
Ich hatte noch nie von einem Sam gehört, aber angesichts der dürftigen Sammlung von Büchern in Lis Bibliothek war das kein Wunder. Ich hatte von den meisten Menschen noch nie gehört.
Ich trank den Tee aus, ließ den leeren Becher sinken und murmelte: »Ich bin Ana.« Inzwischen war mir warm, und ich war nicht ertrunken. Wenn er mich hinauswarf, würde ich nicht schlechter dran sein als zuvor, solange ich meinen Rucksack wiederfand.
»Ana.«
Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken, als er meinen Namen aussprach. Und was für einen Namen. Als ich den Mut aufgebracht hatte, Li zu fragen, warum sie diesen Namen ausgewählt hatten, hatte sie gesagt, er sei Teil eines alten Wortes, das »alleine« oder »leer« bedeutete. Es war außerdem ein Teil von Cianas Namen und symbolisierte das, was ich ihr gestohlen hatte. Es bedeutete, dass ich eine Seelenlose war. Ein Mädchen, das in Seen sprang und von Sam gerettet wurde.
Ich hielt den Kopf gesenkt und beobachtete ihn, die Augen niedergeschlagen. Seine Haut war in dem warmen Zelt und vom Dampf des Tees gerötet. Er besaß noch die vollen Wangen
seines Alters, aber die Art, wie er sprach, verriet Autorität und Wissen. Er sah aus wie jemand, mit dem ich hätte aufgewachsen sein können, aber das täuschte, denn er hatte schon Tausende von Jahren gelebt. Seine Haare fielen ihm wie Schatten über die Augen und verbargen seine Gedanken, während er mich seinerseits musterte.
»Du bist doch nicht …« Er legte den Kopf schräg und runzelte die Stirn. Ich muss so leicht zu lesen gewesen sein wie ein Himmel voller Regenwolken. »Oh, du bist die Ana.«
Mein Magen krampfte sich zusammen, als ich, hin- und hergerissen zwischen Zorn und Demütigung, die Decke von mir warf. Die Ana. Wie eine Krankheit. »Ich werde dich nicht weiter belästigen. Danke für den Tee. Und dafür, dass du mich gerettet hast.« Ich schob mich zur Zeltlasche, aber er hielt den Arm vor den Reißverschluss.
»Das ist nicht nötig.« Er machte wieder eine Kopfbewegung zu der Decke hin, und sein Ton duldete keine Widerrede. »Leg dich hin.«
Ich biss mir auf die Lippe und fragte mich, ob er sich wohl bei Li melden würde, sobald ich eingeschlafen war, und ihr sagen würde, dass er mich in einem See gefunden habe und ich noch nicht in der Lage sei, für mich selbst zu sorgen. Aber ich konnte unmöglich zu ihr zurückgehen.
Sein Ton wurde sanfter, als wäre ich ein scheues Pferd. »Ist schon gut, Ana. Bitte bleib hier.«
»Okay.« Ohne ihn aus den Augen zu lassen, kroch ich wieder unter die Decke. Die Ana. Seelenlos. Ana, die nicht hätte geboren werden sollen. »Danke. Ich werde dir deine Großzügigkeit vergelten.«
»Wie willst du das machen?« Er saß vollkommen reglos da, die Hände auf dem Schoß, und sah mir direkt in die Augen. »Hast du irgendwelche Fähigkeiten?«
Nervosität schnürte mir die Kehle zu. Dies war eines der wenigen Dinge, die Li erklärt hatte, und sie hatte es oft erklärt. Im Reich gab es eine Million Seelen. Es hatte immer eine Million Seelen gegeben, und jede einzelne leistete ihren Beitrag zur ständigen Verbesserung der Gesellschaft. Jeder verfügte über notwendige Talente oder Fähigkeiten, sei es, dass er gut mit Zahlen oder Wörtern umgehen konnte, Fantasie für Erfindungen, Führungsqualitäten oder einfach nur den Wunsch besaß, Landwirtschaft zu betreiben und für Nahrung zu sorgen, damit niemand hungern musste. Seit Tausenden von Jahren hatten sie sich das Recht auf ein gutes Leben verdient.
Ich hatte mir nichts verdient. Ich war die Seelenlose, die Li achtzehn Jahre gekostet hatte, ihr Essen und ihre Fähigkeiten in Anspruch genommen und die sie mit Fragen und all ihren Bedürfnissen genervt hatte . Die meisten Menschen verließen ihre Eltern in einem Leben, wenn sie dreizehn Jahre alt waren. Vierzehn, höchstens. Sie waren dann in der Regel groß und stark genug, um dort zurechtzukommen, wo sie sein wollten. Ich
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