Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
einen Schatten zu töten.
Während ich weiterhastete, schlugen mir Zweige ins Gesicht, Dornen hielten meinen Mantel fest. Ich riss mich jedes Mal los und lief tiefer in den Wald hinein. Nur das Zischen verriet, wie nahe die Sylphen waren.
Meine Augen tränten in der eisigen Luft, und die Taschenlampe wurde bereits schwächer, es war Lis alte Ersatzlampe.
Meine Brust brannte vor Angst und Kälte, und ich hatte Seitenstechen. Das Heulen der Sylphen klang wie der pfeifende Wind in einem Sturm und kam immer näher. Eine Flammenzunge erreichte meine ungeschützte Wange. Ich schrie auf und versuchte, noch schneller voranzukommen, und prompt verfing sich mein Rucksack in dem Gewirr der Zweige. Wie sehr ich auch daran zog und zerrte, ich bekam ihn nicht frei.
Der Schnee schmolz unter den Sylphen, als sie einen dunklen Kreis aus schauerlichen Geräuschen und Wind bildeten. Schwarze Ranken wanden sich auf mich zu, und die Verbrennung auf meiner Wange schmerzte.
Ich zog die Arme aus den Rucksackgurten und schoss zwischen den Schattenwesen hindurch. Die Hitze traf mich im Gesicht wie aus einem Backofen. Sie kreischten und verfolgten mich, aber ich konnte mich nun freier bewegen. Bäume, Gestrüpp, umgestürzte Baumstämme. Ich rannte, schlug Haken und konzentrierte mich darauf, an dem nächsten Hindernis vorbeizukommen, statt an den Schnee und die Kälte zu denken oder an den feurigen Tod, der mich jagte.
Vielleicht konnte ich sie zu einer der Sylphenfallen führen, aber ich wusste nicht, wo sie waren. Ich wusste nicht einmal, wo ich war.
Die Taschenlampe ging aus. Ich klopfte und drehte den Griff, bis in dem trüben Licht wieder Schnee und Bäume zu erkennen waren.
Die Sylphen heulten und stöhnten und kamen näher, als ich einer schneebedeckten Tanne auswich. Ich spürte einen Hitzeschwall im Nacken, sprang über einen Baumstamm und rutschte auf einen Felsrand über dem See zu. Um nicht hinunterzustürzen, warf ich mich auf die Knie. Meine Taschenlampe hatte weniger Glück als ich und fiel in die Tiefe. Ein – zwei – drei Sekunden. Ein tiefer Fall.
Ein Windstoß wehte vom See herüber, als ich wieder auf die Füße kam. Die Sylphen verharrten am Waldrand, sieben oder acht Geschöpfe aus Schatten und Rauch, die doppelt so groß waren wie ich. Der Schnee schmolz unter ihnen, als sie vorwärtsglitten und ich zwischen ihnen und dem Abgrund des Endsees in der Falle saß.
Ihre Rufe kündeten von Zorn und Hoffnungslosigkeit, von ewig brennendem Feuer.
Ich warf einen Blick über die Schulter. Der See hinter mir war eine einzige dunkle Fläche, aus der nichts hervorstach. Falls es Felsen oder Eisschollen gab, konnte ich sie nicht sehen. Ertrinken wäre ein besseres Ende, als für Wochen oder Monate im Sylphenfeuer zu brennen.
»Ihr kriegt mich nicht.« Ich drehte mich um und sprang von der Klippe. Der Tod würde schnell und kalt sein, ich würde nichts spüren.
KAPITEL 2
Wasser
Ein Schrei verhallte. Meiner.
Ich holte tief Luft und schlug die Hände über Mund und Nase. Wasser schoss mir in die Stiefel, an mir hinauf und über das Gesicht. Der Druck presste mir den Atem aus der Lunge. Mein Mantel saugte sich voll und zog mich in die Tiefe.
Fäustlinge sind keine Flossen, und meine Stiefel waren zu schwer zum Wassertreten. Als ich mich nach oben kämpfte, war ich taub vor Kälte und spürte kaum die Eisklumpen, gegen die ich mit wild rudernden Armen und Beinen stieß. Unter Wasser schien die Schwerkraft in jede Richtung zu wirken, aber als ich noch glaubte, weiter nach unten gezogen zu werden, schnitt mir plötzlich ein eisiger Wind ins Gesicht.
Ich spuckte Wasser und schnappte nach Luft. Ich versuchte, mich ans nächste Ufer zu ziehen, doch ich konnte in der schweren, vollgesogenen Kleidung nicht die Arme heben. Das Gewicht zog mich abermals unter Wasser und ließ mir nur Sekunden, um die Lunge zu füllen.
Wie sehr ich mich auch bemühte, ich konnte den Weg zurück an die Oberfläche nicht finden. Ich klammerte mich an einen Eisbrocken, um mich daran hochzuziehen, doch stattdessen wurde ich herumgerissen. Ein heller Schimmer zog meinen Blick auf sich: die Taschenlampe, die auf den Grund sank, den ich nicht sehen konnte.
Ich hielt den Mund fest geschlossen, aber meine Brust verkrampfte
sich, als meine Lunge nach frischer Luft verlangte, wo keine war. Wenn mich die Kälte nicht vorher umbrachte, würde es das Wasser tun.
Meine Gedanken vereisten und zersplitterten. Ich hörte meinen Pulsschlag in den Ohren, der
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