Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
Sylphen und dem fremden jungen Mann. Zwar wusste ich nicht, was er wollte, aber wenn er genauso war wie Li, dann war es nicht gut, in seiner Nähe zu sein.
Als ich um einen Turm aus Felsbrocken und kleinen, dicken Bäumen lief, holte mich der Winter ein. Eine Gänsehaut kroch mir die nackten Arme hinauf. Ich trug nur ein dünnes Hemd und eine Hose, die viel zu groß war – beides nicht von mir.
Die eisige Luft brannte bei jedem Atemzug. Ich stolperte eine Treppe aus Stein und Lehm hinunter und wollte weiterlaufen, doch vor mir erstreckte sich der weite See im Mondlicht. Kleine Wellen blinkten auf, als sie ans Ufer und an meine Zehen plätscherten.
Ich stolperte zurück und hatte Bilder von Eis und einer schwächer werdenden Taschenlampe vor Augen, wenn ich blinzelte. Die hohen Felsen, von denen ich gestürzt – nein, gesprungen war –, hingen ein gutes Stück rechts von mir über dem See und zeichneten sich dunkel gegen helles Sternenlicht und verschneite Berge ab. Ich hätte sterben sollen.
Vielleicht hatte Li den Jungen bezahlt, damit er mich rettete. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sie mit mir spielte wie eine Katze mit der Maus, bis die Maus – ich – vor Angst beinahe starb.
Schritte knirschten im Schnee, und die Wellen vor meinen Füßen erglühten in hellem Licht. Ich fuhr herum. Der Junge hielt eine Laterne auf Schulterhöhe und sah an mir vorbei. »Nachdem ich mir solche Mühe gegeben habe, dich zu retten, wäre es nett, wenn du nicht schon wieder versuchen würdest, dich umzubringen.«
Ich biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Ich zitterte am ganzen Körper, während ich nach einer Fluchtmöglichkeit suchte, aber er verstellte den einzigen Weg. Ich hätte ihn verprügeln oder an ein anderes Ufer schwimmen können, wohin er mir nicht folgen konnte. Doch beides würde wohl nicht funktionieren, vor allem, da ein neuerliches Bad in dem eiskalten See das Letzte war, was ich wollte. Er würde mich wahrscheinlich nur noch mal retten.
Er musste stark sein, sonst hätte er mich nicht so ohne Weiteres vom Grund des Sees nach oben bringen können. Bartstoppeln verdunkelten sein Kinn, und er war viel größer als
ich, aber er schien in meinem Alter zu sein. Braun gebrannt, weit auseinanderstehende Augen und dunkle, widerspenstige Haare. Das mussten seine Arme gewesen sein, die mich unter Wasser umschlossen hatten, und sein Atem, der mich anfüllte, als ich selbst keinen mehr hatte.
»Eigentlich kannst du auch zurückkommen.« Er hielt mir seine freie Hand hin und bog die langen Finger in einer Geste des Willkommens. »Ich werde dir nichts tun, und du zitterst. Ich mache uns Tee.«
Er tat auch nichts, um sein eigenes Zittern zu verbergen; das Fehlen von Mantel oder Handschuhen bedeutete, dass er sich nicht die Zeit genommen hatte, sich warm anzuziehen, bevor er mir gefolgt war. Vielleicht machte er sich wirklich Sorgen, aber ich hatte auch Li für aufrichtig gehalten, als sie mich daran erinnert hatte, einen Kompass mitzunehmen.
»Bitte.«
Meine andere Option war zu erfrieren, was nun, da ich definitiv am Leben war, weniger reizvoll schien. Aber ich würde ihn im Auge behalten, und wenn er irgendetwas in der Art von Li versuchen sollte, würde ich fliehen. Er konnte mich nicht dazu zwingen zu bleiben.
Ich folgte ihm durch den Wald. Nahm seine Hand nicht, schlang nur die Arme um mich und war froh, dass er eine Laterne mitgebracht und darauf geachtet hatte, in welche Richtung ich gelaufen war.
Der Wald war schwarz von Schatten und weiß von Schneeverwehungen. Kiefern und Tannen erbebten unter der Last von einer Million Schneeflocken. Ich zuckte bei jedem Geräusch zusammen und lauschte auf das Flüstern und Stöhnen, das mich in den See getrieben hatte.
An der Stelle, wo mich die Sylphe an der Wange berührt hatte, verspürte ich einen stechenden Schmerz. Außerdem
fühlte sie sich heiß an. Es schienen sich jedoch keine Blasen gebildet zu haben, und es würde mich wohl nicht umbringen. Ich konnte froh sein, dass ich nicht mehr abbekommen hatte. Angeblich sollen große Sylphenverbrennungen wachsen und mit der Zeit den ganzen Körper verzehren. Li hatte mich gewarnt, dass es eine schmerzhafte Todesart sei.
Wir erreichten das Zelt. Ein kleines Pferd mit einem halben Dutzend Decken auf dem Rücken stand daneben und beäugte uns schnaubend. Als wir nichts Beängstigendes taten, senkte es den Kopf, um weiterzudösen.
Mein Retter hielt mir das Zelt auf. Unsere Stiefel und
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