Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
wenn du es vermeiden kannst. Es gibt zwar nur wenige Zäune, doch die Leute schätzen ihre Privatsphäre.«
Ich legte den Kopf in den Nacken, die Fäuste immer noch in den Ärmeln des Pullovers geballt. Der Tempel verschwand in den Wattewolken des Vormittags. »Was könnte da drin sein, das so viel Platz braucht?«
»Nichts. Er ist leer.«
Mit einem Ruck senkte ich den Kopf und sah ihn fragend an. »Du warst drin? Ich dachte, es gäbe keine Tür.«
»Es gibt auch keine.« Die Falte bildete sich wieder zwischen seinen Augen, und um seinen Mund gesellten sich zwei hinzu. »Ich weiß einfach, dass er leer ist. Aber es war niemand drin.«
»Das ist sehr merkwürdig.« Und dass die weißen Mauern einen Herzschlag hatten, und dass sich mir vom bloßen Anblick
des Tempels der Magen umdrehte. »Denkst du nicht, dass da etwas nicht stimmt?«
»Ich habe noch nie darüber nachgedacht.« Er blickte stirnrunzelnd nach oben. »Nicht ein Mal in fünftausend Jahren.«
Ich hasste es, wenn er mich daran erinnerte, wie alt er war.
Wir bogen in die Allee von gestern ein, und Sam zeigte auf die verschiedenen Mühlen und Fabriken im Industrieviertel. »Die Stadt ist ein Kreis, der Tempel und das Rathaus sind in der Mitte. Vier Alleen führen in die Hauptrichtungen und teilen die Stadt in Viertel. Südwesten und Nordosten sind Wohnviertel, Südosten ist das Industrieviertel, und der Nordwesten ist für die Landwirtschaft reserviert. Du kannst die Fischteiche vom Marktplatz aus sehen und dahinter die Obstgärten, aber ich glaube nicht, dass es dir Spaß machen würde, die Getreidefelder zu erkunden.«
»Vielleicht doch.« Ich würde definitiv keinen Spaß daran haben, doch er sollte ruhig darüber nachdenken. »Wenn ich nach Hinweisen darauf suchen würde, wer die Stadt erschaffen hat, würde ich dort anfangen.«
»Historiker haben tatsächlich dort angefangen und Skelette und Artefakte gefunden, aber man konnte nicht sagen, woher sie stammten.« Er zog den Mundwinkel hoch, wie immer, wenn ich etwas sagte, das er nicht erwartet hatte. »Warum denkst du so viel über die Vergangenheit nach?«
Ich zuckte die Achseln. »Weil ich sie nicht erlebt habe.«
Er schüttelte den Kopf und lachte leise, dann beeilte er sich, zu erklären. »Ich lache dich nicht aus. Es ist nur – ich denke, du bist unglaublich.«
Meine sarkastische Antwort rutschte mir heraus, bevor ich mich bremsen konnte. »Vorhin hast du noch gedacht, ich sei impulsiv.« Das war nicht klug. Er sollte dumm und leichtsinnig mit auf die Liste setzen.
Sam blieb stehen. »Ana.«
Ich wollte ihn ignorieren, aber sein angestrengter Tonfall bedeutete nichts Gutes für eine zukünftige Freundschaft. »Sam.« Ich sprach leise, damit man mich nicht hörte, es waren Leute in der Nähe, die zu uns hersahen. »Ich hätte das nicht sagen sollen.«
Er wirkte abwesend, während ich den Atem anhielt, dann antwortete er schließlich. »Du hast jedes Recht, aufgebracht zu sein. Was vorhin passiert ist …«
»Nichts ist passiert«, unterbrach ich ihn schnell. Bevor es peinlich werden konnte. Bevor er sich dafür entschuldigte, nicht das zu empfinden, was immer ich zu empfinden meinte.
Es war nicht nötig, sich für das Fehlen dieser Gefühle zu entschuldigen. Außerdem wusste ich, dass er mich mochte. Er hatte sich um mich gekümmert, als ich nicht dazu in der Lage gewesen war, er hatte mich in sein Haus aufgenommen, als ich keins gehabt hatte. Er hatte ein Lied für mich geschrieben. Dossam, die Person, die ich immer hatte kennen lernen wollen. Natürlich empfand ich … Ich meine, natürlich dachte ich, ich würde etwas für meinen Helden empfinden, der sich auch noch als ein guter Mann erwiesen hatte. Ich hätte nichts anderes erwarten sollen.
»Es ist nichts passiert«, flüsterte ich noch einmal. Es auszusprechen, es festzustellen verringerte den Schmerz.
Seine Lippen öffneten sich, und er wirkte unsicher. Es schien, als würde er Einwände erheben, aber stattdessen nickte er nur schwach. »Okay. Das ist wahrscheinlich das Beste.«
Ich atmete erleichtert aus und rückte die Hände in den Ärmeln zurecht. »Denkst du, sie lassen mich die Bibliothek benutzen?«
Wir gingen weiter. Die Spannung zwischen uns war noch nicht ganz verschwunden.
»Ihrem eigenen Befehl zufolge müssen sie es dir erlauben. Wie sollst du sonst alles lernen, was sie verlangen?«
»Was ist mit all den Dingen, die ich lernen will und mit denen sie nicht einverstanden sein werden?« Was war aus Ciana
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