Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
Welt.
»Warst du in derselben Versammlung wie ich?«
»Ja.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
»Nein«, knurrte er, »warst du nicht. Du hast uns für eine Zeit vollkommen verlassen. Sie haben fünf Mal deinen Namen gesagt, bevor du endlich reagiert hast, und selbst dann warst du kaum da. Was hast du dir dabei gedacht? Du wusstest, wie wichtig es war, einen guten Eindruck zu machen. Wenn du das nächste Mal vor dich hin dösen willst, tu es irgendwo, wo der Rat nicht darüber entscheidet, ob du in Heart bleiben darfst oder nicht.«
Ich taumelte zurück und knallte mit dem Rücken gegen die Wand, als ich zu ihm aufblickte. Sein Gesicht war von Ärger und Enttäuschung gerötet, und mir fiel keine gute Verteidigung ein, abgesehen von der Wahrheit.
»Du weißt nicht, wie es ist«, flüsterte ich. Noch eine Spur lauter, und meine Stimme würde zittern. »Du hast keine Ahnung, wie es ist, von Menschen umgeben zu sein, die mehr als
zweihundertmal so alt sind wie du und die darüber entscheiden, ob du würdig genug bist, in einer Stadt zu leben, die hier eines Tages einfach so herumstand. Keiner von euch kann das verstehen. Ich bin allein , Sam.«
Sein Ärger bekam Risse, Mitleid schimmerte hindurch, und ich wäre beinahe davongestampft, aber er sagte: »Du wirst wirklich allein sein, wenn du nicht aufpasst, Ana.« Trotz der harten Worte war sein Tonfall sanft. Ich fragte mich, welches von beidem die Lüge war.
»Drohst du damit, mich jetzt schon aufzugeben? Ich habe dich nicht darum gebeten, mich aufzunehmen.« Meine Augen schmerzten und füllten sich bei der Erinnerung an diesen Morgen und wegen der Wut und des Verrates jetzt mit Tränen. »Ich habe dich nicht gebeten, irgendetwas für mich zu tun.«
Er schluckte sichtbar. »Sie haben gedroht, dich wegzunehmen. Mir wegzunehmen.«
Die Wand hinter mir machte einen weiteren Rückzug unmöglich. »Das können sie nicht.«
»Li ist nach Heart zurückgekehrt.«
Ich bekam keine Luft mehr.
»Es ist allgemein bekannt, dass sie dich nicht will, also wird der Rat noch nichts unternehmen. Aber wenn ich dich nicht kontrollieren kann – Meurics Worte –, werden sie dich mir wegnehmen. Wenn du Glück hast, wirst du dann zu Li zurückgehen und deine Ausbildung fortsetzen, wie wir es geplant hatten. Wir dürften uns nicht sehen.«
Mir war flau. »Und wenn ich kein Glück habe?«
»Dann wirst du verbannt, nicht nur aus Heart, sondern aus dem Reich.« Er holte tief Luft. »Es wird nicht leicht werden. Das habe ich nie gesagt. Trotzdem, du musst dir mehr Mühe geben. Ich will dich nicht verlieren.«
Wenn die Wand mich nicht gestützt hätte, wäre ich wahrscheinlich umgekippt. »Ich will nicht allein sein.«
»Das will niemand.« Er schloss die Augen, und die Falte vertiefte sich. »Ich will auch nicht, dass du dich allein fühlst. Ich weiß, dass ich nicht viel tun kann. Ich weiß, dass ich wie die anderen…«
»Ist schon gut.« Ich wollte ihn umarmen oder mich dafür entschuldigen, dass ich ihn angebrüllt hatte. Irgendwas. Es würde jedoch nichts ändern, und nachdem mir klar geworden war, dass er mehr mit Sine gemeinsam hatte als mit mir, konnte ich…konnte ich es einfach nicht. Ich schlang die Arme um mich.
»Ich will dich nicht verlieren«, flüsterte er noch einmal.
Und ich wollte nicht verloren gehen oder zu Li zurückgebracht werden oder an einen Ort verbannt werden, wo Sylphen und andere Kreaturen ihr Unwesen trieben. »Ich werde mir mehr Mühe geben.«
KAPITEL 14
Wiedererkennen
Die Bibliothek hatte ihren eigenen Flügel im Rathaus. Ohne das vorherige Gespräch mit Sam wäre mir schwindlig gewesen, als er die schweren Mahagonitüren aufzog und wir den gewaltigen Saal betraten. Die Wände bestanden aus Bücherregalen, und jedes Regal war voll.
Es gab keine getrennten Räume für verschiedene Abteilungen, wie ich gedacht hatte, aber hohe Bücherregale schufen in den Ecken oder auf den Galerien über dem Erdgeschoss den Anschein von Abgeschiedenheit. Schwere Mahagonitische waren über die freien Flächen verteilt. Darauf standen zierliche Lampen mit Buntglasschirmen. Winzige Spatzen und Eichhörnchen, die leuchteten.
Die Gänge waren mit weichen Teppichen bedeckt, an deren Rändern Parkettboden hervorlugte. Ich trat über Diamanten und Schneeflocken und atmete den Duft von Leder, Tinte und Staub ein.
»Vielleicht«, sagte ich und drehte mich zu Sam um, »könnten wir hier einfach einziehen.« Die schwere Luft dämpfte meine Worte, obwohl der
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