Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
entsprechenden Schlitze, und während sie geladen wurden, legte er ein Fotoalbum auf den Schreibtisch zwischen unseren Stühlen. Eine Lampe mit Fischreihern warf ein fröhliches Licht über den glänzenden Einband.
Er blätterte durch die Seiten des Albums und deutete auf ein Farbfoto von zwei Männern Anfang vierzig, die Arme um die Schultern des anderen gelegt. Sie lächelten den Betrachter an, einer breiter und mit der Hand an der Hutkrempe. Der andere hatte ein verschmitzteres Lächeln, das einen Mundwinkel höher zog als den anderen. Er sah nicht gut aus, er hatte schlechte Haut und schlaffes Haar, aber dieses Lächeln und die Energie, die er verströmte … »Das bist du.« Ich zeigte auf den Mann auf dem Foto.
Sam – der junge, gut aussehende – sah mich schief an. »Bist du sicher?«
»Absolut.«
Er nickte. »Der andere ist Stef. Er starb eine Woche nach dieser Aufnahme bei einem Unfall.«
So schwer es mir fiel zu glauben, dass der Sam auf dem Foto der gleiche Sam war, der neben mir saß, war es noch schwieriger
zu glauben, dass die Frau, die ich an diesem Morgen kennen gelernt hatte, auch der Kerl auf diesem Bild war.
Sam blätterte zu einem Foto von zwei Männern und einer Frau, die Musik machten. Ein Mann saß am Klavier, und mein erster Impuls war zu sagen, dass dies Sam war, aber es kam mir nicht richtig vor. Ich betrachtete sie genauer und suchte nach etwas Vertrautem.
Ich warf Sam einen Hilfe suchenden Blick zu, aber er stützte nur seinen Ellbogen auf den Schreibtisch und sah das Foto ausdruckslos an. Ich wünschte, ich hätte sagen können, was er dachte.
Der Mann am Klavier war definitiv nicht Sam. Etwas an der Art, wie er sich darüberbeugte. Ich hatte Sam bisher nur ein paarmal spielen sehen, aber er nahm das Klavier niemals in Besitz. Er liebkoste es. Der andere Mann hatte eine Flöte, er spielte nicht, so dass sein Gesichtsausdruck leicht zu deuten war. Es war kein Der-Sam-den-ich-kenne-Ausdruck. Zu sehr … jemand anders. Ich wandte mich der Frau mit der Geige zu.
Sie war groß, sanft und fraulich, und sie hielt ihre Geige mit einem traumverlorenen Ausdruck. Etwas an ihrer entspannten Haltung und der Art, wie sie das Klavier oder den Klavierspieler ansah, gab den Ausschlag. Ich konnte nicht erkennen, welches von beiden. Ich berührte ihr Gesicht. »Hab dich gefunden.«
»Hast du das Kleid wiedererkannt?«
Ich sah noch einmal hin. Und tatsächlich, sie trug das Kleid, das ich an diesem Morgen getragen hatte. Sie – er – füllte es auch besser aus, und ich versuchte, nicht neidisch zu sein. »Nein, das ist mir nicht aufgefallen.«
Die Videos waren längst hochgeladen, und der Bildschirm leuchtete und wartete auf Anweisungen. Sam rief das erste ab,
und wir sahen zu, wie eine Gruppe von Menschen auf dem Marktplatz plauderte. Die Bilder waren von schlechter Qualität, aber die Gesichter waren scharf. »Das war, kurz nachdem wir gelernt hatten, wie man Videos aufnimmt. Ein bestimmter Jemand , ich werde keine Namen nennen, ist herumgelaufen und hat alles aufgezeichnet, was er konnte. Wir haben jahreweise Videos wie dieses. Niemand sieht sie sich an, aber es will sie auch niemand recyceln.«
Ich würde sie mir vielleicht ansehen. Aber das sagte ich nicht laut.
Ich fand ihn in der Menge auf dem Marktplatz – Heart hatte sich in den letzten dreihundert Jahren überhaupt nicht verändert – mit anderen Musikern, oder wie er denjenigen, der das Video aufzeichnete, mit rüden Gesten bedachte, während er Pferdeställe ausmistete. Ich fand ihn, wie er in einem Gewitter jemanden hielt oder gehalten wurde und wie er sich mit einem Lächeln zu einer Fremden vorbeugte. Zweimal entdeckte ich ihn, wie er einen Mann oder eine Frau küsste, und meine Kehle schnürte sich zu, so dass ich nur nickte, ihn erkannt zu haben, und er glaubte mir.
Der Bildschirm wurde dunkel, und die Buntglaslampe war die einzige Lichtquelle in unserer Nische. Ich hatte ihn singen hören, hatte ihn davonschleichen sehen, wenn sich jemand mit einer Videokamera näherte – seine Freunde packten ihn meistens an den Armen und zwangen ihn dazubleiben –, und ich hatte zugesehen, wie er lachte, bis sein Gesicht rot war. Ich hatte ihn alt und jung gesehen, dünn und dick, weiblich und männlich, hässlich und schön. Keiner dieser Sams sah aus wie mein Sam. Ich wusste einfach nur, dass sie er waren.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, flüsterte er. Abgesehen von meinem klopfenden Herzen herrschte vollkommene
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