Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
zuerst musste ich mich vergewissern, dass es Sam gut ging.
Er senkte den Blick und sprach leise. »Ich wollte tapfer sein.«
Ich legte meine Hand über seine, die noch immer den Pistolengriff hielt. Seine Knöchel waren bleich, und Adern traten scharf und blau hervor. »Warum bist du nicht im Rathaus geblieben?«
»Ich wusste, dass du nicht nach Hause gehen würdest. Ich musste dich finden.«
Meine Brust schnürte sich zu. »Du bist tapfer, Sam. Du bist der tapferste Mann, den ich kenne.«
Nachdem wir unseren Teil der Aufräumarbeiten erledigt hatten, sammelten wir unsere Sachen ein und kehrten in sein Haus zurück. Ich las ihm eine Stunde lang vor, bevor er an meine Schulter gelehnt einschlief. Dann legte ich das Buch beiseite und setzte mich auf dem Sofa zurecht.
Er rutschte zitternd näher an mich heran, eine Hand fest um meine gelegt. Es war seltsam, in dieser Lage zu sein, jemanden trösten zu müssen, obwohl ich selbst erst vor Kurzem gelernt hatte, getröstet zu werden. Aber ich erinnerte mich daran, wie
Sam mich nach der Sylphe in der Hütte im Arm gehalten hatte und dass seine Anwesenheit geholfen hatte. Ich konnte das Gleiche für ihn tun.
Während ich den Duft seiner Haare einatmete, wurde mir klar, dass ich ihn mein Leben lang gebraucht hatte, noch bevor wir uns kennen gelernt hatten. Zuerst seine Musik und wie ich von ihm durch Bücher und Aufnahmen gelernt hatte. Dann hatte er mir das Leben gerettet und sich geweigert, mich im Stich zu lassen, wie sehr ich es auch verdiente.
Aber als ich eine Decke über uns beide zog und mit den Fingern durch seine Haare strich, veränderte sich meine Perspektive.
Da war keine Musik in dieser Stille und nichts von der Spannung von vor zwei Wochen in der Küche. Selbst mit seinem Körper an meinem hatte ich keinen Krampf im Magen oder ein Verlangen – ich hatte nur den Wunsch, dass er wieder er selbst wurde, nicht von früheren Leben und Toden verfolgt.
Er klammerte sich an mich, als wäre ich ein Fels, das Einzige, was verhinderte, dass er mit der Flut dunkler Erinnerungen davontrieb.
Und ich begriff zum ersten Mal, dass er mich ebenfalls brauchte.
KAPITEL 17
Schritte
»Kein Sam heute Abend?«, fragte Sine von der anderen Seite des Bibliothekstisches. Sie hatte nur eine Stunde gebraucht, um das Thema zur Sprache zu bringen. Sie hatte es beiläufig klingen lassen, aber ich musste keine fünftausend Jahre alt sein, um zu wissen, dass sie auf eine Gelegenheit gewartet hatte. Anscheinend war Schweigen eine ebenso gute Gelegenheit wie jede andere.
Ich zuckte mit einer Schulter und blätterte die Seite in meinem Buch um. Philosophie. Haufenweise Vermutungen, warum Menschen wiedergeboren wurden. Warum einige ein Jahr brauchten, um zurückzukehren, während andere bis zu zehn brauchten. Niemand einigte sich auf irgendetwas, aber weil hier meine Fragen begannen, musste ich es lesen. »Wir machen nicht alles zusammen.«
»Nein? Ich glaube nicht, dass ich einen von euch seit dem Markt alleine gesehen habe.«
Ich hatte den Eindruck gehabt, dass die Menschen in Heart ihre Privatsphäre schätzten. Meine alternative Theorie – dass die Leute schon alles übereinander wussten und sich deshalb die Neugier sparten – klang jetzt viel wahrscheinlicher. Ich war natürlich die Ausnahme. Wenn ich auch nur am Rande betroffen war, stellten die Leute Fragen. An dem Nachmittag, an dem ich Sam aus der Stadt geschleppt hatte, damit er mir die nahen Geysire und heißen Quellen zeigen konnte, hatten
sich Gerüchte wie ein Lauffeuer verbreitet. Ich kam noch immer nicht dahinter, was an heißen Dämpfen, die aus der Erde kamen, so skandalös sein sollte. Die Leute mussten wirklich verzweifelt sein.
»Es überrascht mich nur, dass er nicht bei dir ist, das ist alles. Ihr zwei habt genauso viel Zeit hier drin verbracht wie Whit, und immer seid ihr in euren eigenen Ecken und lernt.«
Ich ließ ein Lächeln aufblitzen. »Er sagte, er habe nicht gut geschlafen und wolle sich heute Abend ausruhen. Es sollte bald alles wieder normal sein.« Vielleicht. Er hatte gar nichts gesagt. Ich hatte ihn dazu gebracht , zu Hause zu bleiben.
»Oh, gut. Ich hoffe, dass er sich bald besser fühlen wird.« Sie beugte sich wieder über ihr Buch, und ihr Stift kratzte über das Papier.
»Das hoffe ich auch.«
Wir arbeiteten noch einige Minuten schweigend weiter, während die Zeit nur zäh verstrich. Aber ich konnte mich nicht mehr auf das Philosophiebuch vor mir konzentrieren. Der Verfasser
Weitere Kostenlose Bücher