Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
ganzen Stadt sein können. Nur wir beide, die Dunkelheit und die Kälte. Der Wind fuhr mir über die Arme und mein Gesicht und ließ mich erschaudern. »Sam.« Sein Name ein einziger Hauch.
Unsere Masken baumelten von seinen Fingern und schwangen mit seinen Schritten. Dunkelheit verbarg die leuchtenden Farben meines Schmetterlings, an dem ich so lange mit Zuschneiden und Bemalen verbracht hatte. »So hätte ich nicht mit dir tanzen sollen. Oder dich küssen.«
Mein Herz flatterte. »Doch, hättest du wohl.«
»Nicht vor allen Leuten.« Seine Stimme klang wie Eiszapfen, die unter unseren Füßen knirschten. »Ich habe die Beherrschung verloren.«
Auf mich hatte er sehr beherrscht gewirkt. »Du hast aus Leidenschaft gehandelt.« Hatte ich vermutet. Jetzt war ich mir weniger sicher, so wie er darauf beharrte, dass es nicht hätte passieren sollen. Aber er hatte mich geküsst. Heftig. »Das ist doch nichts Schlimmes.«
»Was denkst du, was alle vermuten werden?«
»Das ist mir egal.« Ich biss mir auf die Unterlippe und folgte ihm um eine Ecke. Die Kälte war jetzt noch schmerzhafter. Warum konnte er mich nicht so brauchen wie ich ihn? »Na gut, ein bisschen ist es mir schon wichtig, was sie denken, aber am wichtigsten ist für mich, dass du es ernst gemeint hast.«
»Es?«
»Das Tanzen. Wie du mich geküsst hast.« Ich wollte nicht fragen oder erklären müssen. Ich wollte, dass er mich in die Arme nahm und mich küsste, bis ich keine Luft mehr bekam. Jetzt bekam ich aus anderen, weitaus unangenehmeren Gründen keine Luft mehr. »Hast du es ernst gemeint?«
Er blieb stehen und drehte sich zu mir um. »Natürlich! Wie kommst du darauf, dass es nicht so wäre?«
Wenn er sich nicht an den Moment in der Küche erinnerte, in dem nichts passiert war, und an so ziemlich alles von heute, dann war er dumm. »Du hast versucht wegzulaufen, und jetzt sagst du, dass du mich nicht hättest küssen sollen. Was soll ich deiner Meinung nach davon halten?« Meine Stimme verriet mich, sie stockte und zitterte. »Ich kann das nicht einfach so zwischendurch. Entweder wir küssen uns, oder wir tun es nicht. Und wenn wir es tun, dann kein Weglaufen mehr und kein ›Wir sollten das nicht‹. Denn ich kann nicht …« Ich schluckte hörbar und versuchte es noch einmal. »Es ist zu verwirrend, wenn du deine Meinung änderst.«
Die Masken fielen mit einem raschelnden Geräusch auf die Pflastersteine. Sam gab einen Laut von sich, der beinahe wie mein Name klang, dann fasste er mich an den Schultern und küsste mich. Nicht so leidenschaftlich wie zuvor, aber mein Inneres krampfte sich trotzdem zusammen. Ich bemühte mich, alles nachzumachen, was er tat, aber Erleichterung und Wut waren stärker. Ich riss mich von ihm los und trat dabei mit der Ferse gegen die Masken.
»Das war keine Antwort.« Vielleicht doch, aber ich musste die Worte hören.
Er holte scharf Luft, als er die Masken aufhob. »Ich wollte dich küssen, seit wir uns begegnet sind. Nicht aus Mitleid. Nur, weil ich denke, dass du unglaublich und schön bist. Du machst mich glücklich.«
Ich schlang die Arme um mich und blinzelte gegen Tränen und Bitterkeit an. »Es ist schwer, das zu glauben.«
»Du darfst niemals daran zweifeln.« Er legte mir eine Hand auf die Wange und gab mir von seiner Wärme ab. »Ich hoffe, du wirst mir verzeihen.«
»Du kannst es wiedergutmachen.« Ich wollte ihn berühren, aber trotz des ungezwungenen Tanzes und der Art, wie er jetzt dicht vor mir stand, kam es mir unmöglich vor. Die Masken waren gefallen. »Und es kann dir egal sein, was die anderen denken. Fast.«
»Es darf mir nicht egal sein, was der Rat denkt. Streng genommen bist du immer noch …« Er blickte zum Zentrum der Stadt hinüber, und Tempellicht schien auf sein Gesicht. »Sie werden es nicht verstehen.«
Einen fünftausend Jahre alten Jugendlichen und eine Seelenlose? Ich verstand es auch nicht, aber das änderte nichts an dem, was ich wollte. »Ich tue alles, was sie befohlen haben. Wir werden uns erst über sie den Kopf zerbrechen, wenn sie sich beklagen.«
Er wandte sich wieder zu mir, aber es war zu dunkel, um die Feinheiten seines Gesichtsausdruckes zu sehen. »Vorhin hast du gesagt: ›Lass uns nach Hause gehen.‹ Du hast es noch nie Zuhause genannt.« Es folgte eine Pause, in der ich hätte reagieren können, aber ich ließ sie nur mit Sternenlicht und Atemhauch gefüllt. »Willst du«, er trat auf den anderen Fuß, »willst du das? Du und ich?«
»Erinnerst
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