Das Meer Der Tausend Seelen
aussprechen. Ich mache noch einen Schritt nach vorn, bis ich Ciras Gesicht sehen kann. Sie starrt in den Wald, als wären wir anderen gar nicht da.
Catcher schüttelt den Kopf, nein. Erleichtert sinke ich am Zaun hinunter. Doch dann spüre ich Mudo-Finger am Arm und rücke ab.
»Aber warum?«, frage ich, denn ich will verstehen, was Cira in den Wald getrieben hat, will herausfinden, warum sie so etwas getan hat. Keiner antwortet. Ich denke an die Schnittwunden auf ihren Armen. Schon einmal hatte sie versucht aufzugeben. Zitternd schlinge ich die Arme um meinen Körper.
Ich weiß nicht, wie ich sie wieder in Ordnung bringen kann. Was soll ich denn tun, um ihr zu helfen? Ich kann ihr auch nur sagen, dass wir das hier überleben können, dass wir es überleben werden.
Vielleicht ist das das Einzige, das die Menschen in meiner Welt immer wieder dazu bringen wird, an einem Strang zu ziehen. Je mehr wir verlieren, desto mehr werden wir Überlebende.
»Vielleicht sollten wir nach Vista zurückgehen«, sage ich leise zu Catcher und Elias. Cira sitzt mitten auf dem Pfad und schaut gedankenverloren in den Wald. Ihre Arme sind mit Verbänden umwickelt, die voll rostiger Flecken von getrocknetem Blut sind, als ihre Wunden beim Klettern aufgerissen sind. Sie hat nichts gesagt, nichts erklärt, und meine Erleichterung darüber, dass sie in Ordnung ist, schlägt jetzt in Wut und Frustration um.
Die Blutvergiftung wütet noch in ihr, rote Striemen laufen an ihren Armen hoch, ihre Haut ist vom Fieber gerötet. Ich befürchte, dass es ihr nur noch schlechter gehen wird, wenn wir weiterhin hier im Wald bleiben. Irgendwann ist es zu spät, etwas gegen die Infektion zu tun, und sie wird daran sterben.
»Das können wir nicht«, sagt Catcher und schaut auf seine Füße. Er klingt verzagt, seine Augen haben dunkle Ringe von der Anstrengung und vom Schlafmangel.
»Sie ist krank, Catcher«, entgegne ich. Er verzieht das Gesicht. »Ich meine nicht nur wegen der Schnittwunden. Ich meine …« Ich denke an die Entschlossenheit in ihrem Gesicht, als sie heute Morgen über den Zaun geklettert ist. »Ich weiß einfach nicht, ob wir uns richtig um sie kümmern können.«
Vögel fliegen aus einem Busch auf der anderen Seite des Zaunes auf, bei ihrem Kreischen zucken wir alle zusammen. Die Mudo stöhnen weiter.
»Die Rekruter sind schon im Wald«, sagt er. Er schaut immer noch auf den Boden, als wäre das, was er da gesagt hat, keine große Sache.
Ich presse die Finger auf die Stirn. Jetzt sind wir gefangen, es gibt keinen Weg zurück. Ich versuche, weiter regelmäßig zu atmen.
»Wie weit sind sie noch weg?«, fragt Elias.
Catcher schüttelt den Kopf. »Neulich Morgen haben sie den Pfad erreicht. Sie kommen ziemlich schnell voran. Trotzdem habe ich gedacht …«
»Gestern.« Ich kann nur die Lippen bewegen. Die Rekruter laufen schon einen Tag den Pfad entlang. Mir ist schlecht, der Magen dreht sich mir um, allerdings ist er leer, denn langsam geht uns das Essen aus.
»Was machen wir jetzt?« Meine Stimme bricht.
Catcher zuckt mit den Schultern. Anscheinend hat er aufgegeben wie seine Schwester. Ich möchte ihn schlagen. Ich habe zu sehr für ihn und Cira gekämpft, ich habe alles für sie geopfert – jede erdenkliche Aussicht auf ein normales Leben.
Wenn sie jetzt aufhören zu kämpfen, ist das nicht fair. Ich drehe mich um und gehe ein Stück den Pfad hinunter, denn ich brauche Abstand. Ich kann nicht die Einzige sein, die stark bleibt, während alle anderen zusammenbrechen dürfen. Das ist nicht meine Rolle, ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.
Hinter mir raschelt es. Elias. Wie seine Schritte auf dem überwucherten Boden klingen, habe ich mir längst eingeprägt.
»Gabry«, sagt er so vorsichtig, als würde er sich einem verwundeten Tier nähern. Er legt mir eine Hand auf die Schulter, seine Berührung ist leicht, kaum wahrnehmbar.
Ich schüttele den Kopf, fürchte, in mir könnte etwas explodieren, sodass ich entweder in Wut oder in Verzweiflung um mich schlage. Ich wäre so unheimlich gern wie Cira. Dann könnte ich auf dem Pfad zusammenbrechen und jemand anders die Entscheidungen treffen, jemand anders für mich kämpfen lassen. Ich finde, es ist nicht fair, dass ich nicht aufgeben darf.
Elias kommt näher. Ich möchte mich an seine Brust lehnen und mich von ihm halten lassen. Ich möchte ihn denjenigen sein lassen, der mich aufrecht hält. Stattdessen drehe ich mich um und schaue ihm in die Augen. Er lässt die
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