Das Meer Der Tausend Seelen
Hand auf meiner Schulter liegen, und nun trennt uns kaum noch etwas. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Catcher hinter ihm immer noch auf den Boden starrt. Cira ist weiterhin in ihrer eigenen Welt.
Elias’ Gesicht spiegelt meine Gefühle wider: Schmerz und Zweifel. Normalerweise ist er so ruhig und beherrscht. Ihn so zu sehen, wirft in mir die Frage auf, was in seinem Leben ihn auf diesen Augenblick hingeführt haben mag. Sein Daumen streicht an meinem Hals entlang, so sanft, dass ich schon glaube, mir die Berührung nur einzubilden.
Eigentlich sollte Catcher hier mit mir stehen, nicht Elias. Catcher sollte mich halten, trösten und mir Kraft geben. Er ist derjenige, den ich immer gekannt, dem ich immer vertraut und von dem ich immer geträumt habe. Aber all diese Grenzen sind jetzt verwischt, alles ist durcheinander.
Ich will Elias alles über mich erzählen. Dass ich im Wald geboren bin. Dass ich auf diesen Pfaden gegangen bin und überlebt habe, und dass ich hoffe, es auch jetzt wieder zu schaffen. Dass irgendwo da draußen meine Mutter und meine Vergangenheit ist. Und irgendwie weiß ich schon, bevor ich etwas sage, bevor ich irgendetwas davon aussprechen kann, dass er es verstehen wird.
»Wir sollten weitergehen«, sagt Catcher.
Seine Stimme holt mich aus meiner Betäubung, mir ist, als hätte ich Elias hundert Jahre lang angestarrt. Ich schüttele den Kopf und rücke ab von ihm. Meine Wangen glühen vor Verlegenheit. Ich schaue zu Catcher und frage mich, ob ihm das wohl auffällt. Aber er schweigt. Sein Gesicht verrät gar nichts.
In der schwülen Sommerluft stapfen wir die Pfade entlang, entscheiden, welche Abzweigung wir nehmen, durch welche Pforte wir gehen, dabei verlassen wir uns auf den Code, den ich in dem Buch meiner Mutter entdeckt habe. Wir gehen immer aufs Licht zu und folgen den Pfaden, die uns zu Sonett XVIII führen, den Zeilen im Leuchtfeuerraum des Leuchtturms. Ein Gewitter droht am Nachmittag, Wolken ziehen auf, doch es regnet kaum, und unsere Wasserflaschen werden immer leerer. Catcher will aber Cira nicht verlassen und im Wald nach einem Bach suchen, und weil die Rekruter sich bedrohlich nähern, wandern wir immer weiter.
Zuerst fühle ich mich unbehaglich in Ciras Nähe. Catcher ist immer um sie herum und hilft ihr, wenn sie nicht mithalten kann. Sie scheint den Pfad entlangzustolpern, ohne irgendetwas zu sehen, und ich frage mich, ob sie schon aufgegeben hat oder ob die Blutvergiftung allmählich die Oberhand gewinnt und sie verwirrt.
Immer wieder überlege ich, wie viel Zeit ihr noch bleiben mag. Ob sie sich je wieder erholen wird?
Schließlich wird mir die Stille zwischen uns zu viel. Ich falle zurück, nehme Catcher ihre Hand weg und halte sie fest.
»Sag mir noch mal, dass alles gut wird«, bittet sie. Ihre Stimme ist heiser.
So viel von ihr fehlt, so viel von dem, wer sie einmal war – ihr Funke und ihre Energie. »Es wird alles gut«, sage ich und hoffe, sie glaubt meinen Worten, auch wenn ich mir selbst nicht mehr sicher bin.
Sie drückt meine Hand, und ich merke, wie knochig ihre Finger und wie schmal ihre Handgelenke geworden sind. Strähnen ihres Haares hängen ihr schlaff ins Gesicht. Sommersprossen heben sich leuchtend von der blassen Haut ab.
Ich schaue zu Elias und Catcher, die voranstürmen. Ich gebe ihr einen Ruck, damit sie weitergeht, aber sie hält mich zurück. »Die Blutvergiftung ist schlimm, ich weiß es«, sagt sie. Beim Reden muss sie nach Luft schnappen, und wieder merke ich, wie viel Kraft ihr diese ganze Tortur abverlangt. »Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob ich es schaffe bis nach … na, egal.«
Ihre Augen sind glasig. Ich schlucke und schüttele den Kopf, dabei spüre ich den Superheld-Anhänger auf meiner Brust, und ich ziehe mir die Halskette über den Kopf, lege sie ihr um. »Du irrst dich«, sage ich. »Cira, nicht …« Aber sie unterbricht mich, indem sie mir die Lippen weich und trocken auf die Wange drückt.
»Ich sterbe, Gabry.« Sie tritt ein Stück zurück. Tränen steigen ihr in die Augen. »Ich werde mich nie verlieben. Ich werde nie eine Familie haben – nie die Mutter sein können, die ich mir immer gewünscht habe. Ich werde nie erfahren, wie es ist, für jemanden alles zu sein.« Sie lächelt sanft. »Ich werde nicht mal einen Jungen küssen. Sag mir, wie ist es?« Ihre Stimme ist ein Nichts, leiser noch als ein Flüstern.
Ich schüttele den Kopf. Ich will nicht zugeben, dass sie die Wahrheit sagen könnte, dass sie allen
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