Das Meer Der Tausend Seelen
wöchentlichen Ratsversammlung. Ich weiß, ich sollte hineingehen und mich in meinem Zimmer einschließen. Sie wäre besorgt, wenn sie wüsste, dass ich draußen bin, während die Alarmglocken läuten, aber hier herrscht keine Gefahr. Die lauert in den Ruinen und im Vergnügungspark, der so weit weg zu sein scheint.
Ich gehe ums Haus herum und durch den Zaun ans Meer, noch nicht bereit, nach drinnen zu gehen. Die Flut kommt. Zu dieser Zeit ist es gefährlich, sich den Wellen zu nähern, die Mudo an den Strand spülen könnten. Aber trotzdem stehe ich hier und starre hinaus in die Schwärze. Ich spüre den schweifenden, das Nichts beleuchtenden Lichtstrahl hoch über mir mehr, als dass ich ihn sehe.
Früher habe ich hier oft mit meiner Mutter gestanden. Sie hat auf den Horizont geschaut, als wäre er die unfassbare Ewigkeit, als würde er sie rufen, immer nach ihr verlangen. Aber sie ist nie gegangen. Sie hatte ein kleines Segelboot, mit dem sie sich hin und wieder in die Wellen wagte. In der Stadt hatte ich das Geflüster über meine Mutter gehört – sie wurde für verrückt gehalten, schon weil sie überhaupt Interesse zeigte, sich vom Ufer zu entfernen.
Solche Äußerungen haben meine Wangen zum Glühen gebracht. Als Kind war ich unheimlich stolz auf meine Mutter, sie machte Sachen, die sich niemand sonst traute. Egal, was die Leute sagten, sie hüpfte mit ihrem kleinen Boot über die Wellen, ich im Bug und sie am Ruder. Es gab Zeiten, in denen ich mich fragte, ob sie wohl das Segel hissen und einfach weiterfahren würde, bis hinter den Horizont. Aber sie kehrte immer wieder um.
Als ich älter wurde und verstand, welche Risiken sie einging, wurde mein Gesicht oft heiß vor Scham darüber, dass meine Mutter so anders war. Dass sie nicht in die Stadt passte. Die Leute verstanden nicht, warum sie sich so waghalsig verhielt. Ich weigerte mich, weiter mit ihr zu fahren, es war dumm, die Gefahr herauszufordern und den Schutz des Ufers zu verlassen.
Schließlich hat sie aufgehört zu segeln. Das alte Boot hat sie anscheinend auf seiner Rampe am Leuchtturm vergessen. Dort liegt es immer noch. Und wie alles andere auf der Welt fällt es langsam und unvermeidlich auseinander, das Segel ist zerschlissen, der Rumpf ein bisschen verzogen. Ob ich wohl stark genug bin, es ins Wasser zu ziehen? Ob ich wohl den Mast aufrichten kann und das Segel hissen, um hinauszuflitzen in die Nacht? Soll die Leere mich doch verschlucken.
Stattdessen lasse ich meine Füße im Sand versinken, die Wellen zerren an meinen Knöcheln. Ich denke an die halbmondförmige Wunde an Catchers Schulter und frage mich, wie sich alles nur so schnell ändern konnte.
Ich stelle mir vor, wie es gewesen sein muss, Achterbahn zu fahren – damals, in der Davor-Zeit. Einen Augenblick lang ganz oben, die Welt liegt vor einem, der Rausch des Lebens füllt die Lungen … und dann der Fall. Der Kontrollverlust. Das lerne ich langsam über diese Welt: Sie mag dir etwas schenken, aber sie nimmt dir immer etwas weg.
Im Bett spüre ich in dieser Nacht die Laken an meinem Körper intensiver als sonst. Zum ersten Mal denke ich daran, wie es sich anfühlen mag, wenn Catchers Haut meine berührt. Die Luft ist heiß, drückend, schwer. Sie presst mich ins Bett, bis ich nicht mehr atmen kann, und plötzlich gerate ich in Panik. Ich schleudere die Decken weg und schnappe mit der Hand auf der Brust nach Luft. Ich kann nicht fassen, dass ich sie verlassen habe. Dass ich weggerannt bin.
Ich stolpere aus meinem Zimmer, renne die Treppe hoch zur Galerie, stoße mit den Hüften ans Geländer und warte, bis das Licht durch die Dunkelheit schwenkt und in der Ferne auf die Windungen der Achterbahn trifft.
Mein Körper zittert noch immer. Ich bin in Sicherheit. Das sage ich mir immer wieder. Ich bin in Sicherheit. Aber es nützt nichts. Denn ich weiß nicht, ob alle anderen es auch sind.
Und ich habe Angst, dass es nicht von Dauer ist.
In der Ferne sehe ich Lichter flackern, wo keine sein sollten – die Miliz im Vergnügungspark. Ob Cira oder einer der anderen wohl erzählt, dass ich auch da war? Und dass ich weggerannt bin? Ich bin genauso schuldig wie die anderen, ich konnte nur vorher flüchten. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und schaue nach unten auf den Pfad, der sich von Vista bis zum Leuchtturm schlängelt, und rechne damit, den Schein von Fackeln zu sehen. Ich warte darauf, dass sie kommen und mich mitnehmen.
Aber sie tun es nicht. Wind und Licht streifen den
Weitere Kostenlose Bücher