Das Meer Der Tausend Seelen
davor zurück. Ich kann nur die Umrisse ihrer Gestalt erkennen, als sie sich zu mir umdreht. Ihr Schatten wirkt älter als sonst.
»Ich muss wissen, ob du mit ihnen da draußen gewesen bist«, sagt sie. Ich will ihr Gesicht sehen und ihre Miene deuten. Ich stütze mich auf die Ellenbogen, die Schweiß getränkten Laken verrutschen. Ich mache den Mund auf, doch es kommt kein Laut.
»Ich muss wissen, was ich sagen soll, wenn der Rat mich fragt«, drängt sie. »Ich kann nicht mit darüber abstimmen, was mit den anderen geschieht. Aber ich muss über dich Bescheid wissen.«
Ich habe meine Mutter noch nie, noch kein einziges Mal angelogen. Und einen Moment lang überlege ich, ob ich ihr die Wahrheit sagen soll. Aber ich kann es nicht. Ich kann sie nicht in die Lage bringen, die Wahl treffen zu müssen zwischen mir und ihren Verpflichtungen dem Rat gegenüber.
Ich kann ihre Enttäuschung nicht ertragen.
»Nein«, flüstere ich, meine Stimme bricht. »Ich hatte zu viel Angst.«
Sie trommelt mit den Fingern aufs Fensterbrett. Mit angehaltenem Atem warte ich ab, ob sie mir glaubt. Ob meine Angst echt genug ist, um meine Lüge zu verdecken. Und dann, weil ich das Schweigen nicht länger ertrage, füge ich hinzu: »Ich werde nie über die Barriere klettern.« Ich ziehe die Knie an die Brust und schlinge die Arme darum. »Ich werde Vista nie verlassen.«
Sie schaut wieder aus dem Fenster, und als das Licht über ihr Profil gleitet, sehe ich Traurigkeit. Und ich frage mich, ob sie wohl traurig ist, weil ich so ängstlich bin, wo sie doch immer so stark war.
Ich fühle mich von allen beobachtet, als ich allein durch die Stadt zu dem Platz gehe, auf dem man sich versammelt, um die Ankündigung des Rates zu hören. Die Neuigkeit von den Vorfällen der Nacht hat sich schnell verbreitet, überall wird darüber geredet. Sie wissen bestimmt, dass ich da war. Sie wissen bestimmt, dass ich weggelaufen bin und meine Freunde im Stich gelassen habe.
Oder sie wissen, dass ich nicht dabei war, und bedauern mich. Die Einzige, die nicht eingeladen war. Die Außenseiterin. Die eine, die zu ängstlich war.
Meine Hände zittern, als ich an den alten, zerfallenden Betonkästen vorbeigehe, die Läden und Wohnungen beherbergen. Grob behauene Balken ersetzen, was Zeit und Alter aufgelöst haben. Die Gebäude sehen aus wie Flickenpuppen aus zu vielen, nicht zusammenpassenden Teilen. Alte Frauen schauen aus den Fenstern, Kindergeschrei hallt durch die engen Straßen.
Ich will nicht hier sein, will nicht mit dem konfrontiert werden, was passiert ist. Ich will wieder nach Hause laufen und mich im Bett verkriechen. Aber trotzdem zwinge ich mich, weiterzugehen und den bitteren Geschmack der Reue hinunterzuschlucken. Ich muss Cira sehen, muss mich vergewissern, dass es ihr gut geht.
Schließlich habe ich den Platz in der Stadtmitte erreicht, die anderen Bewohner von Vista drängen sich um mich. Zu eng für meinen Geschmack, die Körper neben mir triefen vor Schweiß und Hitze, dünsten den Gestank harter Arbeit und langer Tage aus. Sogar meine eigene Haut fühlt sich nicht richtig an. Ich versuche die Arme und den Hals zu recken, kann mich aber in dem Gedränge nicht bewegen.
Auf einem Podest am Rathaus stehen zwei große Käfige. In einem sind zwei Jungen und ein Mädchen. Sie sitzen schlaff auf Bänken und schauen auf ihre Füße. Das Mädchen trägt einen Verband am Arm, die Jungen haben verbundene Beine. Blut sprenkelt die grauweißen Mullbinden – ich schaudere.
Ich erinnere mich, dass ich gesehen habe, wie das Mädchen gebissen wurde. Ich erinnere mich an ihre Schreie, als der Breaker die Zähne in ihr Fleisch geschlagen hat. Schnell wende ich den Blick ab, ich will das Blut nicht sehen und die Hoffnungslosigkeit auch nicht.
Im anderen Käfig sind noch fünf von letzter Nacht, und ich bin erleichtert, als ich Cira unter ihnen entdecke. Ich starre sie an, will ihr zurufen, bleibe aber stumm. Sie steht bei den anderen, mit gestrafften Schultern lassen sie ihre Blicke über die Menge schweifen, als wollten sie trotzig ihre Strafe annehmen. Aber ich kenne meine beste Freundin gut genug und sehe, dass ihre Finger zittern, dass sie blass ist und die Lippen fest zusammenpresst.
Ich denke zurück, versuche die ganze Gruppe zu erfassen. Nicht alle sitzen in den Käfigen. Vielleicht war ich ja nicht die Einzige, die weggerannt ist. Mindestens vier von uns sind letzte Nacht gestorben oder verschwunden: Catcher, Mellie und zwei andere. Mein Magen
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