Das Meer Der Tausend Seelen
krampft sich bei dieser Feststellung zusammen. Ich begreife, wie real alles ist, was da geschehen ist.
Tot. Das heißt, meine Freunde – Catchers Freunde und vielleicht sogar Catcher selbst – sind tot. Weg. Werden nie tanzen, nie weglaufen zur Dunklen Stadt, nie in der Nacht singen, nie Händchen halten. Die Wahrheit und der Ernst des Ganzen treffen mich mit voller Wucht. Ich taumele zurück, schnappe nach Luft. Hände schubsen mich nach vorn, mürrisches Grunzen tönt in meinen Ohren.
So sehr hatte ich gehofft, Catcher zu sehen. Sogar bei den Angesteckten. Ich hatte gehofft, ein letztes Mal mit ihm reden zu können und seine Hand zu halten, um eine Erinnerung an ihn zu haben.
Es ist, als hätte die Welt aufgehört sich zu drehen und mich abgeworfen, weggeworfen. Ich schließe die Augen und sehe den Biss an seiner Schulter vor mir. Allem Anschein nach war es nichts Ernstes, er wäre nicht daran verblutet. Normalerweise würde es also drei Tage bis zur Wandlung dauern, bis die Infektion sich ausgebreitet hatte und die Organe versagten. Bis die Infektion ihn getötet hatte, damit er wieder zurückkehren konnte.
Aber jetzt, in diesem Augenblick, müsste Catcher noch leben. Die Miliz hätte ihn eigentlich gestern Nacht finden müssen. Doch er sitzt nicht mit den anderen im Käfig, und das bedeutet, entweder hat er sich gewandelt oder er ist weggerannt.
Ich zwinge mich dazu, tief einzuatmen, als mich ein Schwindel packt. Ich balle die Fäuste und schärfe mir ein, dass ich nichts weiß. Catcher könnte es gut gehen, das muss es einfach. An diese Vorstellung, diese Hoffnung klammere ich mich. Ich halte mich daran fest, als wäre sie das Einzige, das mich vor dem Auseinanderfallen bewahrt.
Noch nie habe ich mir mehr gewünscht, neben meiner Mutter zu stehen. Ich könnte meine Hand in ihre gleiten lassen, und sie wäre mein Anker. Aber als Leuchtturmwärterin und Wächterin der Küste ist sie Beraterin der Stadträte. Sie steht bei ihnen und hört zu, als sie über das Schicksal meiner Freunde entscheiden. Wenn ich da oben in den Käfigen wäre, würde auch über mein Schicksal entschieden werden.
Ein Teil von mir ist froh, weil mich nicht dieselbe Strafe erwartet wie meine Freunde. Trotzdem schlägt mein Herz nicht ruhig, und ich frage mich, wie lange mein Glück wohl anhält. In wenigen Augenblicken könnte jemand in den Käfigen mich in der Menge entdecken und kundtun, dass ich letzte Nacht dabei war. Dann werde ich auch auf das Podest geschleppt.
Ich höre das Flüstern um mich herum, höre angstvolle Stimmen vom Breaker raunen und darüber spekulieren, ob sie vielleicht angespült wurde und es irgendwie geschafft haben könnte, durch die Dünen und über die Uferbefestigung in die Ruinen zu gelangen. Während Gerüchte über die letzte Nacht kreisen, sehe ich alles wieder vor mir, ein ums andere Mal: Mellie, die am Boden kniet und sich den Arm hält, während das Blut zwischen ihren Fingern hervorquillt. Ihr Blick, als es geschah. Sie hat nicht begriffen, wie sich plötzlich alles verändern konnte. Sie hat gegen das Unvermeidliche gekämpft. Gegen die Realität.
Und dann war sie niemand mehr, nur noch eine hungrige Hülle.
Ich schlucke und bahne mir einen Weg zurück durch die Menge, stolpere über Füße und werde beschimpft, weil ich gegen den Strom andränge. Ich stehe am Rand der Menge, will durch die engen Straßen rennen bis in mein sicheres Bett, als die Leute ringsum verstummen. Da wird mir klar, dass ich nicht weitergehen kann. Ich kann meine Freunde nicht verlassen, mich nicht vor dem verstecken, was passiert ist.
Zitternd und ängstlich schlinge ich die Arme um die Brust und bleibe bei den Einwohnern von Vista stehen. Wir beobachten, wie der Rat seinen Platz auf dem Podium einnimmt, wie seine Berater, darunter meine Mutter, sich einer nach dem anderen hinter ihm auf den Bänken niederlassen.
Der Vorsitzende tritt vor, und um mich herum versinkt die Welt in Bedeutungslosigkeit. Hunderte von Menschen halten gleichzeitig den Atem an.
»Was sind wir, wenn unsere Barrieren versagen?«, beginnt er. »Wenn unsere Wachen versagen? Unsere Sicherheitsmaßnahmen?« Der Vorsitzende hat eine tiefe, laute Stimme. Sie rollt über jeden einzelnen von uns hinweg und füllt die Lücken zwischen uns. Alle um mich herum beugen sich vor, alle Augen sind auf ihn gerichtet.
»Ein Biss«, fährt er fort. »Ein Biss löscht eine Stadt aus. Ein Biss reichte, um vor langer Zeit unsere Welt auszulöschen. Ein Biss ist
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