Das Meer Der Tausend Seelen
Horizont, die Lichter im Vergnügungspark verblassen, verschwinden schließlich ganz – und ich stehe immer noch hier und warte.
Ich fühle mich wie ein Verräter, weil ich in Sicherheit bin, meine Freunde jedoch nicht. Weil ich lebe, sie sich aber angesteckt haben könnten.
Doch obwohl ich mich selbst dafür hasse, fühle ich mich hauptsächlich als Verräterin, weil ich mich mehr als an alles andere daran erinnern will, wie sich Catchers Lippen auf meinen angefühlt haben. Weil ich seine Finger auf meinem Handgelenk spüren möchte. Weil ich nur diese eine Erinnerung aus dieser Nacht behalten möchte, die nicht Schmerz, Furcht und Reue ist.
Aber ich kann nicht. Ich sehe nur das Blut.
Und ich begreife, ich werde ihn nie wiedersehen. Ich werde ihn nie wieder fühlen. Alles, was ich an Möglichkeiten und Freiheit gespürt habe, ist für immer verschwunden.
5
D ie frühe Morgensonne dringt durch die Läden vor dem Fenster. In diesem Licht sind die Falten im Gesicht meiner Mutter besonders deutlich zu sehen. Sie sitzt auf meiner Bettkante und streicht mir das Haar von den Wangen. Mit einer hauchzarten Berührung hat sie mich aus den tiefsten Träumen geholt.
Etwas zerrt an mir, vage erinnere ich mich, dass ich traurig sein müsste und verstört, und es dauert zu lange, bis es mir wieder einfällt. Catcher ist infiziert. Der Breaker. Mellie und die anderen – und ich bin weggelaufen. Habe Cira zurückgelassen.
Die Emotionen der vergangenen Nacht treffen mich mit voller Wucht, überwältigen mich. Ich will mich verkriechen, stattdessen halte ich den Atem an und schlucke die brennenden Tränen herunter. Ich drücke die Fingernägel in meine Handfläche, damit ich mich auf den Schmerz konzentrieren kann.
»Mom«, flüstere ich und lasse sie glauben, dass meine Stimme vom tiefen Schlaf belegt ist.
Sie schiebt mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Den größten Teil meines Lebens war das unser morgendliches Ritual. Sie kommt in mein Zimmer, setzt sich auf mein Bett und weckt mich sanft, damit ich dem Tag ins Auge schauen kann.
Manchmal singt sie mir leise ein Lied vor, manchmal erzählt sie mir Neuigkeiten aus dem Dorf. Manchmal sitzen wir nur schweigend da.
In diesem Sommer bin ich immer mehr auf Distanz zu ihr gegangen, weil mir so schmerzlich bewusst war, wie sehr sie sich von den Leuten in Vista unterscheidet. Ich will lieber so sein wie die anderen Teenager, sogar lieber so wie Catcher und Cira, die keine Eltern haben.
Aber an diesem Morgen darf sie sich mein Haar um die Finger wickeln. Ich schließe die Augen und lasse mich von ihr trösten.
»Ich muss zu einem Ratstreffen, Gabrielle«, sagt sie. Dann macht sie eine Pause. »Letzte Nacht ist etwas passiert. Etwas, das du wissen musst.«
Ich versuche, gleichmäßig zu atmen, sie soll nicht merken, dass ich schon weiß, was sie sagen wird. Trotzdem spüre ich, wie mir der Atem stockt, wie mir die Panik der vergangenen Nacht die Brust abschnürt. Ich hätte nicht wegrennen sollen. Ich sollte gestehen, was passiert ist.
Aber ich tue es nicht.
Undeutlich murmele ich: »Was?«
»Einige deiner Freunde sind außerhalb der Barrieren aufgegriffen worden«, sagt sie.
Ich spüre, wie sich das Bett bewegt. »Die Miliz wurde verständigt. Sie haben sie bei den Ruinen im Vergnügungspark gefunden.« Ich höre, wie sie schluckt. »Offenbar waren Ungeweihte in der Nähe.« Ich zucke zusammen, als sie dieses Wort »Ungeweihte« benutzt, ein Rückgriff auf ihr altes Leben und die Art, wie sie erzogen wurde. Ihre Weigerung, sie wie alle anderen Mudo zu nennen, ist nur eine weitere Erinnerung daran, wie anders sie ist.
»Einige von ihnen haben sich angesteckt und gewandelt«, sagt sie mit gepresster Stimme. Wieder hält sie inne. »Es tut mir so leid«, flüstert sie und drückt fest meine Hand.
Ich drehe meinen Kopf ins Kissen, kneife die Augen fest zusammen, um den Schmerz in mir zu behalten.
»Heute Morgen wird über die Bestrafung abgestimmt«, fährt sie fort, »und dann wird eine Stadtversammlung abgehalten, um das Urteil zu verkünden.«
Ich sollte sie fragen, wer verletzt wurde. Das erwartet sie von mir. Ich sollte sie fragen, ob Cira und Catcher dabei waren, ob sie okay sind, aber ich weiß die Antwort schon und kann mich nicht dazu überwinden, etwas anderes vorzuspielen. Sie wartet darauf, dass ich etwas sage, und als ich schweige, geht sie ans Fenster und macht die Läden auf, damit sie aufs Meer hinausschauen kann.
Das Licht ist grell, und ich scheue
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