Das Meer Der Tausend Seelen
einer Waffe verlangen soll.
Schließlich nickt er, und ich schäle ihm das Hemd vom Körper. Ich muss die Zähne zusammenbeißen, als der Geruch des Blutes in die Luft steigt. Angespannt warte ich auf die Reaktion der Mudo hinter den Zäunen, rechne damit, dass ihr Stöhnen anschwillt, ihre Unruhe zunimmt. Doch nichts passiert. Wieder eine Erinnerung daran, wie anders Catcher ist.
Er kann als einer der ihren durchgehen.
Ich tröpfele ein wenig Wasser aus der Trinkflasche auf einen Fetzen meines Rocks, damit betupfe ich seine Wunden. Dann halte ich ihm die Flasche an die Lippen und beobachte seine Kehle, während er trinkt.
»Mehr kann ich jetzt nicht für dich tun.« Wenn ich doch mehr tun könnte. Nicht nur für die Wunden auf seinem Rücken, sondern auch gegen den Schmerz, den ich in seinen Augen sehe – die Schuld und die Selbstverachtung. »Du musst mir versprechen zu essen und zu schlafen. Hör auf, dich so zu fordern. Hör auf, dich zu bestrafen.«
Er berührt meine Wange, sein Daumen folgt der Spur meiner Tränen – ich habe nicht mal gemerkt, dass ich weine. Wir schauen einander an, sämtliche zu Staub zerfallenen Möglichkeiten stehen flackernd zwischen uns.
Und dann steht er auf, nur leicht schwankend, er wirkt schon kräftiger. Ich lege die Hand auf seine Brust, um ihm Halt zu geben. Seine Hitze durchdringt mein Fleisch, ich schnappe nach Luft. Mir ist vertraut, wie heiß seine Haut ist, wie seine Berührung versengt, ich kann nicht widerstehen, die Finger an ihn zu schmiegen.
Er lehnt sich zu mir, bis nur noch das kleinste Nichts uns trennt. Sein Feuer erfasst mich. Ich lege meine andere Hand auf seine Brust, spüre seine Rippen, das Zucken seiner Muskeln bei meiner Berührung.
»Gabry.« Seine Stimme klingt tief, warnend. Ich weiß, ich soll die Starke sein, diejenige, die weggeht und ihn zurücklässt. So will er es haben. Aber ich werde nie die Starke sein.
Ich drücke mich fester an ihn, will mich daran erinnern, wie es vorher war. An diesen Moment – diese Sekunde –, ehe sich alles verändert hat.
Langsam streicht er mir mit dem Finger über die Lippen. Meine Zunge berührt seinen Daumen. Mit einem tiefen, kehligen Ton ergibt er sich und zieht mich an sich.
Doch ehe sein Mund auf meinen trifft, hält er inne, zieht die Luft durch die zusammengebissenen Zähne ein und keucht vor Anstrengung. So stehen wir da, einem Kuss so nah, aber irgendetwas ist zwischen uns. Er wimmert, kommt aber nicht näher. »Gabrielle«, sagt er, dieses Mal klingt es flehend.
Ich schließe die Augen, spüre seine Qual. Er ist lebendig, kein Ungeheuer, sondern immer noch der, der er immer war, das will ich ihm beweisen.
Er kommt wieder zu Atem, nochmals berühre ich seine Haut mit meinem Mund. Sie brennt auf meinen Lippen, die Hitze zwischen uns ist beinahe unerträglich.
Er streichelt meinen Rücken. Mit geschlossenen Augen presse ich mich an ihn. »Catcher«, flüstere ich. Unsere Herzen schlagen gegeneinander, das Blut rast durch unsere Adern. Ich fühle mich leicht und schwindelig, als würde sich die Welt so schnell drehen, dass sich die Zeit verändert – und uns zum Vorher zurückbringt.
Zurück in die Zeit vor dem Wald und Elias und meiner Mutter und Daniel und den Rekrutern und Cira. Nur eine Erinnerung – eine nur – an das, was hätte sein können.
Plötzlich schlingt er die Arme um mich und zieht mich an sich, sein Mund ist an meinem Hals, am Kragen meines Hemdes, an meinem Schlüsselbein, an meinem Ohr.
Als sich unsere Lippen beinahe treffen, hält er auf einmal inne. Ich schmiege mich an ihn, will den Raum zwischen uns auslöschen, doch anscheinend ist eine allzu dicke Mauer aus Luft zwischen uns. Seine Lippen sind meinen so nahe, ich kann ihre Hitze gerade eben fühlen, doch berühren kann ich sie nicht.
Es ist zum Verzweifeln. Wir sind uns so nah. Wir haben es fast geschafft. Nur dieses eine Mal will ich ihn so küssen wie damals. Bitte. Warum versteht er das denn nicht? Wenn sich unsere Lippen nur berühren, wenn wir diesen Augenblick nur noch einmal durchspielen könnten, dann wäre es doch vielleicht möglich, die Lücke zwischen damals und jetzt zu schließen. Dann könnten wir alles zurücknehmen.
In diesem Augenblick sind wir fast wieder Catcher und Gabrielle vor der Achterbahn im Vergnügungspark. Ansteckung gibt es nicht. Veränderung hat es nicht gegeben. Ich möchte weinen wegen all der Wünsche und Bedürfnisse, die sich nur so ein kleines Stück außerhalb meiner
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