Das Meer Der Tausend Seelen
erwidere ich. »Ich kann nicht einfach weitermachen, ohne etwas zu wissen. Ich kann nicht daran glauben, so wie du es getan hast.«
Sie will etwas einwenden, aber ich schneide ihr das Wort ab. Es ist mir wichtig, dass sie das über mich weiß. Mir ist es wichtig, dass sie aufhört, mich als jemanden zu sehen, der ich nicht bin. Ich habe es satt, dass sie so eine gute Meinung von mir hat, wo ich diese doch überhaupt nicht verdiene. »Nein«, sage ich. »Du bist immer so gewesen. Du hast immer gewusst, was du willst.«
Ich hole tief Luft. »Und ich nicht«, sage ich schwach. Mir steigen die Tränen in die Augen, und ich lasse sie über mein Gesicht laufen. »Ich weiß gar nichts«, sage ich. »Früher war das anders … und dann hat sich alles verändert, und du hast mich verlassen … und ich habe mich nicht zurechtgefunden.«
Ich wende mich ab, kneife die Augen fest zu. »Ich wünschte, ich wäre so«, flüstere ich. »Ich wünschte, ich könnte sein wie du.«
Sie zieht mich an sich. Erst sträube ich mich, dann falle ich in ihren Schoß, und sie schlingt die Arme um mich. »Ich wusste es nie«, sagt sie, ihre Lippen berühren meine Schläfe. »Ich wusste nie, was ich wollte. Ich hatte immer schreckliche Angst.« Ich spüre, wie sie zittert beim Atmen. »Ich war immer durcheinander, und meine Mutter war auch weg, und ich wusste nicht, was ich ohne sie machen sollte.«
»Warum hast du mich dann verlassen?«, frage ich. »Wenn du wusstest, wie es war, warum bist du dann weggegangen?« Ich ziehe meine Beine an und rolle mich zusammen.
Lange schweigt sie. Um uns herum tropft das Wasser von den Ästen und den Blättern. Auf der anderen Seite des Zaunes gleiten Mudo durch die Nacht, ihr Stöhnen ist bedrückend. »Weil ich nicht perfekt bin, Gabrielle«, sagt sie schließlich. »Auch ich mache Fehler. Ich habe den Fehler gemacht, meine Freunde im Wald zurückzulassen. Ich war egoistisch. Ich hätte früher wieder in den Wald zurückgehen und sie holen sollen. Ich hätte mich mehr anstrengen müssen herauszufinden, wo du herkamst.« Sie zuckt mit den Schultern, und ich merke, dass ich die Luft anhalte.
»Du musst nicht versuchen, perfekt zu sein, Gabrielle. Und denk bloß nicht, dass ich nicht auch Fehler machen kann. Es ist anstrengend, wenn alle Vollkommenheit von einem erwarten. Und es ist nicht angemessen, dass du dir diesen Druck auferlegst.« Sie legt meinen Kopf in ihre Hände. »Du bist ein Mensch, Gabry. Wir sind beide nur Menschen. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger.«
Ich nicke und lasse ihre Worte auf mich wirken. Irgendwie habe ich das Gefühl, sie habe mir die Erlaubnis erteilt, mir selbst zu vergeben, meine Fehler und Ängste loszulassen. Das ist ein Furcht einflößender Gedanke – ich habe so lange an ihnen festgehalten, dass sie ein Teil von mir geworden zu sein scheinen.
Sie lächelt, die Fältchen um ihre Augen werden tiefer. »Manchmal zeigt es sich, dass die Fehler das Beste am Leben waren«, sagt sie. »Wenn ich keine Fehler gemacht hätte, wäre ich im Dorf geblieben, damals, als ich in deinem Alter war. Ich hätte Harry geheiratet. Ich hätte nie das Meer gefunden, wäre auch nie gereist.«
»War es das wert?«, frage ich. »Hat es sich gelohnt, wegzugehen und das Meer zu suchen? Wärst du nicht glücklich gewesen, wenn du im Dorf geblieben wärst? Wenn du deine Mutter bei dir gehabt hättest und mit Harry zusammen gewesen wärst?«
»Ach, Liebes«, sagt sie, und ihre Stimme klingt verzweifelt. »Ich kann die Leben nicht miteinander vergleichen, die ich gelebt haben könnte. Eines wäre Bequemlichkeit und Sicherheit gewesen. Aber das andere …« Sie seufzt. »Das war die größte Liebe, der größte Schmerz und das Wunderbarste, was ich je erleben konnte.«
»Aber am Ende hat sich nichts geändert«, wende ich ein und drehe mich, bis ich ihr Gesicht sehen kann. »Du bist immer noch hier im Wald. Du bist immer noch bei Harry, so, als ob alles andere – das Meer und ich – nie passiert wäre.«
Sie lächelt. »Ich habe immer gedacht, das Meer wäre so ein unberührter Ort«, sagt sie mit einem Anflug von Bedauern in der Stimme. »Tod und Ungeweihte würde es dort nicht geben, dachte ich. Und als ich dann hinkam und die Toten auf dem Strand liegen sah …«
Sie zuckt mit der Schulter. »Da habe ich begriffen, dass ich die Welt so annehmen musste, wie sie war. Ich habe begriffen, dass ich vorangehen musste.«
»Hast du es getan?«, frage ich.
Eine Weile denkt sie schweigend nach.
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