Das Meer Der Tausend Seelen
schmiegt er sich an ihr Bein. »Wir sollten also weitergehen«, sage ich. Mehr erzähle ich ihnen nicht über unsere Begegnung, aber Elias legt den Kopf schräg und richtet den Blick auf meine roten geschwollenen Augen.
Er kniet sich auf den Boden und fängt an, Vorräte zu sortieren; ich gehe an ihm vorbei, bücke mich und nehme meinen Rucksack. Er will die Hand nach mir ausstrecken, aber ich werfe mir den Rucksack über die Schulter und weiche seiner Berührung aus. Er soll mich nicht so sehen, so wund und verletzlich.
»Gabry?« Die Stimme meiner Mutter ist voller Sorge. Aber ich schüttele nur den Kopf und gehe weiter, ich muss allein sein mit mir selbst. Ich warte nicht, bis die anderen bereit sind, mir zu folgen. Der Morgenhimmel ist bewölkt, der Wind raschelt in den Bäumen. Lange dauert es nicht, bis es anfängt zu regnen, dann wird der Pfad zu Matsch, und die Steine werden rutschig.
Diese Mühe ist mir willkommen, ebenso wie die Nadelstiche der Regentropfen auf meinem Gesicht, die meine Kleider durchweichen und mir wie Schweiß den Rücken hinunterlaufen. Ich wünschte, sie würden mich wegspülen. Während der heftigeren Regenschauer entfernen sich die Mudo von den Zäunen, ihre Sinne werden von der schweren Feuchte getrübt. Ich seufze erleichtert, der Matsch und das Gespritze machen mir nichts aus, solange es mir Aufschub von dem endlosen Stöhnen verschafft.
Im Laufe des Morgens versucht Elias mir kleine Freundlichkeiten zu erweisen, die ich alle zurückweise. Er hält mir seine Wasserflasche hin, als ich nach meiner greife, und ich ignoriere es. Als ich über einen abgebrochenen Ast mitten auf dem Pfad stolpere, gibt er mir Halt, und ich danke ihm nicht. Ich kann weder ihn noch sonst jemanden ansehen. Ich konzentriere mich auf meine Füße, darauf, vorwärtszugehen und mich an diesem Morgen von den Wellen der Verzweiflung nicht entmutigen zu lassen.
Der Pfad beginnt steil anzusteigen, als wir uns Bergen nähern, und beim Klettern rutschen wir im Matsch aus. Dabei schauen wir ständig über die Schultern zurück und fragen uns, wie weit hinter uns die Rekruter jetzt wohl sein mögen – und wie bald sie aufgeholt haben werden. Odys drückt sich an die Beine meiner Mutter, er hält den Kopf gesenkt, sein Fell tropft.
Wir erreichen den Gipfel des Berges, sehen aber nur noch einen weiteren vor uns liegen, der Pfad gabelt sich immer wieder, wir werden immer weiter vorangetrieben. An diesem trüben Nachmittag wird es früh dunkel, der Regen nimmt zu, und das Vorankommen wird immer schwieriger. Wir rutschen den Hügel hinunter und fangen wieder an zu klettern. Nach einer Weile legt sich der Regen, die Wolken treiben auseinander, Sterne zeigen sich. Da es nun trocken ist, kommen die Mudo wieder stöhnend an die Zäune. Das Wasser strömt in dicken Rinnsalen den Pfad hinunter.
Zum zehnten Mal stolpere ich über Wurzeln, die in der Dunkelheit nicht zu sehen sind, und falle der Länge nach in den Matsch. Diesmal stehe ich nicht auf. Elias will mir helfen, aber ich schlage seine Hand weg.
»Gabry«, sagt er. »Alles in Ordnung? Hast du dich verletzt?«
Ich schüttele den Kopf, nasse Haare kleben mir an den Wangen. Ich bin erschöpft. Psychisch und physisch.
Wieder will er mir aufhelfen. »Wir müssen weiter.«
»Warum?«, will ich wissen, mir ist alles so egal.
»Die Rekruter, sie sind immer noch hinter uns und …«
»Na und?« Ich starre auf den Boden, auf meine Finger, die sich in den Schlamm krallen. Ich will aufgeben. »Sollen sie uns doch finden und mitnehmen. Wir können nicht pausenlos weiterlaufen und ewig diesem Pfad folgen. Wir wissen nicht, wo er hinführt. Wir wissen nicht mal, ob er überhaupt irgendwo hinführt.«
Elias will etwas sagen, aber dann höre ich, wie er sich entfernt. Und da wird mir klar, dass ich irgendwie gewollt hatte, dass er von mir verlangt, mich mehr anzustrengen. Dass ich gehofft hatte, er würde mir einen Grund geben, weiterzumachen. Wie betäubt überlege ich, ob er sich jetzt vielleicht auch nichts mehr aus mir macht. Ob heute beide Männer, die mir etwas bedeutet haben, beschlossen haben könnten, dass ich die Mühen nicht wert bin.
Elias und Harry gehen ein Stück weiter, während meine Mutter sich neben mich kniet. »Nun komm, Gabrielle«, sagt sie sanft. »Elias hat recht, wir sollten weitergehen.« Sie legt ihre Hand auf meine. »Vertrau mir, wir schaffen das schon. Wir kommen hier irgendwie wieder raus.«
Ich schaue sie an. »Ich bin nicht wie du«,
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