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Das Meer Der Tausend Seelen

Das Meer Der Tausend Seelen

Titel: Das Meer Der Tausend Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan , Catrin Frischer
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packen kann. »Als ob all das gar nicht da wäre.«
    Er legt die Ellenbogen auf die Knie und faltet die Hände.
    »Singt sie noch?«
    In der Dunkelheit schüttele ich den Kopf. Wie traurig, zu wissen, dass es diesen Teil von ihr gibt, von dem ich nichts geahnt habe. »Nein«, sagte ich. »Nicht mehr.« Es ist, als ob das Leben meiner Mutter in zwei Teile zerschnitten worden ist, jeder von uns ist nur mit einer Hälfte ihrer Erinnerungen vertraut. Nicht mal, wenn man sie vereinte, würden wir das Ganze kennen. Die Frau, die Harry kennt, und die, die ich kenne … das sind nur Ausschnitte eines größeren Bildes.
    Ich denke an Elias und das, was er über mein Leben im Wald weiß. An Catcher und das, was er über mein Leben in Vista weiß. Doch weder der eine noch der andere kennt mich ganz. Und würde einer der beiden ans Flussufer robben, um mich falsch singen zu hören … nur, um in meiner Nähe zu sein?
    »Ihr hättet heiraten sollen.« Ich will mehr über sie erfahren, deshalb bohre ich. »Ihr wart verlobt.« Ich zeige auf das Buch. »Das steht hier.«
    Er lacht, aber ich kann sein Gesicht nicht mehr ausmachen, und dann schweigt er lange. »Ich dachte, ich würde sie lieben«, sagt er schließlich.
    »Und das hast du nicht getan?«
    »Ich … Ich kannte sie nicht. Ich hatte ein Bild von ihr im Kopf. Ich konnte sie nicht die sein lassen, die sie sein musste.«
    »Soll das heißen, man kann jemanden nicht lieben, wenn man nicht wirklich weiß, wer er ist?« Ich denke an Elias, an die Geheimnisse, die er anscheinend für sich behalten will – als hätte er Angst, mich alles von sich wissen zu lassen.
    »Es heißt, dass man sie nicht genug liebt, wenn man sie nie als die zu sehen versucht, die sie wirklich sind.«
    Ich versuche herauszufinden, wo da der Unterschied ist.
    »Und wie ist es jetzt?« Ich sehe vor mir, wie er ihre Hand gehalten, wie sie ihm ihre Hand auf die Wange gelegt hat.
    Er nimmt einen Stock vom Boden auf und biegt ihn, bis er fast zerbricht. Glühwürmchen tanzen um uns herum wie winzige Sternchen. »Ich bin eigennützig gewesen in meinem Leben«, sagt er. »Und weiß der Himmel, deine Mutter auch. Aber so ist das mit der Liebe, wenn sie frisch und neu ist. Da ist sie Feuer und Donner und Hitze.« Er reibt sich den Nacken.
    »Wenn man jung ist, hat man so viele Erwartungen an den anderen. So viele Bedürfnisse. Und wenn man älter ist …« Er zuckt mit den Schultern. »Dann will man jemanden mit Verständnis. Wir haben verschiedene Leben gelebt. Wir haben verschiedene Menschen geliebt. Aber ich glaube, das wird immer bleiben …« Er sucht nach dem richtigen Wort. »Dieses Verständnis, das wir teilen. Weil wir in derselben Welt aufgewachsen sind, dasselbe durchlebt haben.
    Ich habe Mary immer geliebt«, sagt er. »Sogar als sie jemand anderem gehörte. Als sie mich nicht lieben konnte, habe ich sie geliebt. Manchmal stelle ich mir vor, dass, wenn die Dinge früher anders gewesen wären, wenn ich die Chance gehabt hätte, mit ihr aufzuwachsen, mich zu beweisen … aber das hätte nie geklappt, das weiß ich. All das andere musste sein, es war nötig, dass sie wegging und dass ich ins Dorf zurückgekehrt bin. Manches soll einfach beim ersten Anlauf noch nichts werden«, sagt er. »Manchmal hat man Glück, wenn es überhaupt irgendwann mal etwas wird.
    Das hat schon etwas, dieses Gefühl, einander immer schon gekannt zu haben.« Er räuspert sich. Ob es ihm wohl peinlich ist, so viel preisgegeben zu haben – sich so offen und ungeschützt zu zeigen?
    »Deine Mutter …« Er zögert wieder. »Ich glaube, sie hat sich manchmal davor gefürchtet zu lieben. Sie hatte Angst, denke ich. Sie ist so ein Typ, der greifbare Dinge mag, das Meer zum Beispiel. Etwas, worauf man zeigen kann, und weiß, was es ist. Ich glaube, deshalb hatte sie immer Probleme mit Gott. Und ich vermute, deshalb hatte sie auch Probleme mit der Liebe. Sie konnte sie nicht berühren. Sie konnte sie nicht festhalten und dafür sorgen, dass sie sich nicht veränderte.«
    Er steht auf, wieder knacken seine Knie. Das Stöhnen der Mudo begleitet seine Worte wie eine Melodie. »Du musst nicht auch so sein, Gabrielle«, sagt er und macht sich auf den Weg zu unserem kleinen Lager. »Manchmal muss man am meisten an den Dingen festhalten, die man nicht berühren kann.«

41
    I n dieser Nacht träume ich von glänzenden Türmen und Straßen in reinem Weiß. Von Geräuschen und Gerüchen. Alles dreht sich im Kreis, und ich stehe in der Mitte.

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