Das Meer Der Tausend Seelen
Lichter flackern, Leute gehen vorbei, aber ich bleibe unbeirrt stehen. Mir gegenüber, keinen Meter weit weg, ist ein anderes Mädchen. Sie ist groß, hat blondes Haar und grüne Augen. Durch das Gedränge hindurch starrt sie mich an.
Als wären wir beide der Angelpunkt der Welt, als würde durch uns alles im Gleichgewicht gehalten.
Die Sonne geht auf und wieder unter. Die Welt um uns herum zerfällt. Die Leute verschwinden, die Geräusche verklingen. Pflanzen drängen durch die Straßendecke, Ranken winden sich an den Häusern hoch. Und wir starren uns immer noch an.
Bis die Sonne sinkt und dieses Mal nicht wieder aufgeht. Der Mond wird zur leeren Hülle. Die Luft ist kalt und schneidend. Pflanzen welken und sterben ab. Schon lange sind die Häuser verfallen, es gibt nur noch das Mädchen und mich in der Dunkelheit.
Sie ist meine Schwester. Mein Zwilling. Ich kann es in ihr sehen, in mir fühlen. Sie war immer da, wird immer da sein. Ich strecke die Hand nach ihr aus, will sie berühren, sie halten, aber irgendwie kann ich den Raum zwischen uns nicht überbrücken. Also strenge ich mich mehr an, hämmere gegen das unmögliche Unsichtbare, weil ich weiß, dass ich sie mehr als alles andere brauche und einen Weg finden muss, zu ihr zu kommen.
Beim Aufwachen höre ich Stöhnen und das Knarren der Zäune, gegen die die Mudo sich werfen, ganz nah, auf beiden Seiten des Pfades. Der Traum hat einen Schmerz in meiner Brust hinterlassen, das Gefühl, dass etwas fehlt. Ich muss ein paarmal tief durchatmen, um mein wie wild schlagendes Herz zu beruhigen. Meine Hand fühlt sich warm an, ich drehe den Kopf zur Seite und sehe, dass Elias neben mir schläft. Er hat sich hinter mir zusammengerollt, sein Atem steigt wie Nebelwölkchen in den taufeuchten Morgen auf.
Seine Haare sind jetzt dicker und länger als bei unserer ersten Begegnung. Drei blasse Streifen ziehen sich über seine Wange, eine Erinnerung an meinem Kampf mit ihm im Meer. Wie leicht doch solche Spuren unserer Vergangenheit auszulöschen sind. Im Schlaf ist sein Gesicht entspannt, seine Lippen sind leicht geöffnet.
Er atmet tief ein, regt sich, seine Augen öffnen sich. Wir sind nur Zentimeter auseinander. Er lächelt, streicht mir eine Haarsträhne von der Wange und lässt seine Hand an meinem Hals ruhen.
Ich will diesen Augenblick genießen, ihn fest an mich drücken wie eine Erinnerung. Doch dann breitet sich ein Schatten über meine Glückseligkeit. Ich denke daran, wie ich Elias geküsst habe, als ich eigentlich bei Cira sein sollte. Wenn ich da gewesen wäre, hätte ich ihr vielleicht ausreden können, sich anstecken zu lassen.
Ich setze mich auf, reibe mir die vom Schlaf geschwollenen Augen. Noch ist der Schmerz über Ciras Verlust zu frisch und neu. Ich nehme eine Wasserflasche und gehe den Pfad hinunter, denn ich brauche Zeit zum Nachdenken.
Elias steht auf. »Gabrielle, warte«, ruft er mir nach.
Ich drehe mich nicht um. »Nein«, sage ich und gebe ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er mir nicht folgen soll.
Meine Gedanken rasen, wohin ich gehe, ist mir egal, nur weg von Elias, meiner Mutter und Harry. Ciras Halskette liegt schwer auf meiner Brust, und plötzlich fühle ich mich gefangen, eingezwängt, als ob die Zäune zu nah und der Himmel zu niedrig wären. Meine Muskeln verkrampfen sich schmerzhaft, und ich schüttele die Arme zur Lockerung.
Ich stolpere über einen Stein, verliere das Gleichgewicht. Ich lasse mich auf die Knie fallen und wälze mich auf den Rücken, meine Wasserflasche fliegt in hohem Bogen ins Gras. Verletzt habe ich mich nicht, trotzdem bleibe ich einfach liegen und starre in die wässrig graue Morgendämmerung. Ich bewege mich nicht, versuche nicht zu denken, ignoriere alles um mich herum.
Rosa Streifen vermischen sich am Himmel mit einem Hauch von Violett, als ich Schritte höre. Zuerst glaube ich, Elias sei mir gefolgt, doch dann merke ich, dass die Schritte aus der falschen Richtung kommen. Eine bange Vorahnung befällt mich. Ich greife nach meinem Messer, aber es ist nicht da, ich habe es an meinem Schlafplatz liegen lassen.
Langsam wälze ich mich auf den Bauch und presse den Körper auf den Boden, so leise ich kann, richte ich mich auf. Die Schritte sind unregelmäßig. Mein erster Gedanke ist, dass uns Mudo aus dem Dorf hinterhergekommen sind, doch dann fällt mir auf, dass kein Stöhnen zu hören ist. Mir bricht der Schweiß aus. Ich überlege, ob die Rekruter es geschafft haben könnten, durchs
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