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Das Meer Der Tausend Seelen

Das Meer Der Tausend Seelen

Titel: Das Meer Der Tausend Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan , Catrin Frischer
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»Ich weiß nicht. Letzten Endes schon. Manchmal denke ich noch an dieses Gefühl zurück und sehe wieder vor mir, wie sich das Meer zum ersten Mal vor mir ausdehnte, wie es war, die Gewissheit zu haben, dass es echt war – und dass wahr war, woran ich geglaubt hatte.
    Das hat alles verändert, Gabrielle. Es hat mein Wesen verändert. Und Harry. Wenn wir von Anfang an zusammen gewesen wären … dann wäre es anders. Ich brauche Harry nicht mehr dazu, um mich vollständig zu fühlen, er soll nur bei mir sein.«
    Ich drehe den Kopf, bis ich die Sterne in einer Lücke zwischen den Wolken sehe, und bin mir nicht sicher, ob ich den Unterschied verstehe.
    »Du darfst nicht aufgeben, Gabrielle.« Ihre Stimme ist nur ein Hauch. »Nichts von alldem. Den Pfad nicht, deine Freunde nicht.« Sie macht eine Pause. »Deine Familie nicht.«
    Ich mache mich von ihr los, schlinge die Arme um meine Beine und ziehe sie an mich. »Du redest von Annah«, sage ich.
    Sie beugt sich vor. »Ich rede von mir«, sagt sie. »Ich bin kein vollkommener Mensch, Gabry. Ich habe Fehler gemacht, und ich mache weiterhin welche. Genau wie du. Und Harry, Elias und Catcher.«
    Ich schaue auf meine Finger, verschlinge sie ineinander, drücke auf meine Fingernägel und beobachte, wie sie weiß werden. Ich denke an Elias, der sich immer noch die Schuld dafür gibt, mich und Annah verloren zu haben. Er hat solche Angst davor, wieder alles mit mir zu vermasseln. Und ich habe Angst, mich ihm zu öffnen, fürchte mich schrecklich davor, die falsche Entscheidung zu treffen.
    Meine Mutter legt ihre Hand auf meine. »Die Welt war nie perfekt. Und sie wird es auch nie sein. Es wird schwer und unheimlich, und wenn du Glück hast, wunderbar und Ehrfurcht gebietend. Doch du musst dich durch die schlimmen Zeiten durchkämpfen, um an die guten heranzukommen.«
    »Und wenn es keine guten gibt?«, frage ich, mir kommen wieder die Tränen. »Und wenn ich die guten Zeiten schon erlebt habe und nichts mehr zu erwarten ist?«
    Sie lacht, kehlig und tief. »Vertrau mir, wenn ich dir sage, dass es noch jede Menge Gutes gibt«, sagt sie. »Manchmal musst du nur etwas riskieren, um es zu finden – und das Bequeme und Sichere verlassen.«
    Ich schlucke, die Möglichkeiten, die sie anspricht, bringen meinen Puls zum Flattern. »Und wenn ich zu ängstlich bin?«
    Sie schaut mich lange an. »Ich bin zwischen Zäunen aufgewachsen. Alles, was wir gelernt und gewusst haben, war begrenzt. Die Schwesternschaft wusste, dass es außerhalb unseres Dorfes eine Welt gab, redete uns aber ein, wir wären die Letzten. Sie haben jeden Teil unseres Lebens reglementiert – und uns davon überzeugt, dass wir unsere Existenz gefährdeten, wenn wir etwas anderes glaubten, als sie uns gelehrt hatten.«
    Sie streicht sich das Haar hinters Ohr. Noch nie hat sie mir irgendetwas davon erzählt. Geschichten von ihrer Kindheit im Wald, die schon, doch nie, wie es war, dort erzogen zu werden. Ich habe das Gefühl, einen heimlichen Blick auf sie werfen zu können und sie nicht als meine Mutter zu sehen, sondern als ein Mädchen, das einmal so alt war wie ich – und sich denselben Ängsten stellen musste wie ich.
    »Ich wollte, dass du ein anderes Leben bekommst, Gabrielle«, sagt sie. »Ich habe jeden Tag Gefahr, Angst und Schrecken erlebt, und ich wollte, dass du nichts als Sicherheit und Geborgenheit kennenlernst, während du heranwächst. Ich dachte, wenn ich dich im Leuchtturm groß werden lasse, wo du über die Barriere hinwegsehen konntest, wo du sehen konntest, dass es da draußen eine Welt gab, würdest du automatisch mehr wollen. Und vielleicht habe ich mich geirrt. Vielleicht habe ich dich nur gelehrt, dich vor allem zu fürchten, was nicht sicher ist.
    Vielleicht werden wir immer in einer Welt voller Zäune leben«, fährt sie fort und weist mit der Hand auf den Maschendraht zu beiden Seiten des Pfades. »Aber sie sind nur da, damit die Ungeweihten draußen bleiben. Nicht, damit du drinnen bleibst.«
    Ich lasse mir ihre Worte durch den Kopf gehen und nicke. Wir sitzen noch eine Weile zusammen und lauschen darauf, wie die Mudo gegen die Zäune rennen und wie das Wasser durch die Nacht tropft. Schließlich steht sie auf, zieht mich hoch, und wir stapfen weiter auf dem Pfad, dem Morgen entgegen.

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    A m nächsten Tag mittags bekommen wir einen ersten
Eindruck davon, wie nah die Rekruter hinter uns sind. Wir haben uns einen weiteren Gipfel hochgekämpft und schauen zurück, als wir sehen, wie sie

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