Das Meer Der Tausend Seelen
sich auf der anderen Seite des Tales den Hang hinabschlängeln.
Als der Abend sich nähert, hören wir sie schon manchmal. Ihre Rufe dringen durch die Luft und verbinden sich mit den Geräuschen der Mudo.
Catcher hat sich nicht blicken lassen, seit er mich gestern Morgen verlassen hat. Ich bin besorgt, weil er schwerer verletzt sein könnte, als ich dachte, und vielleicht nicht auf sich achtgibt. Er könnte allein draußen im Wald sein und sterben. Ich bohre meine Fingernägel in die Handflächen, um meine Gedanken von ihm abzulenken, aber ich kann nicht.
»Vielleicht sollten wir uns trennen«, schlägt Harry vor. Die Dunkelheit zwingt uns, langsamer zu gehen. Er schaut den Berg hinunter, wo wir eine Reihe von Fackeln stetig durchs Tal marschieren sehen. Odys lehnt sich an sein Bein, er winselt leise, als würde er unsere Angst riechen.
»Nein«, sagt meine Mutter, und wir wandern weiter, die Erschöpfung macht sich bei jedem Schritt bemerkbar.
Elias übernimmt die Führung, meine Mutter und Harry bleiben ein Stück hinter uns zurück. Ich fühle mich unbehaglich in Elias’ Gegenwart, plötzlich weiß ich nicht mehr, was ich zu ihm sagen soll. Als hätte ich das je gewusst. Beim Gehen schaut er sich nach mir um, und wenn er hört, dass ich strauchele, ist er immer gleich mit einer starken Hand da, die er mir anbietet. Er stützt mich, doch dann dreht er sich wieder zum Weitergehen um. Ich fühle mich furchtbar, weil ich ihn so oft weggestoßen habe, und frage mich, ob ich nun alles so vermasselt habe, dass es nicht mehr wiedergutzumachen ist. Doch dann fällt mir ein, wie oft er mich schon weggestoßen hat, und ich presse die Lippen aufeinander und gehe weiter.
Doch einmal dreht er sich dann nicht wieder um. Er bleibt vor mir stehen, seine Finger umschließen meinen Ellenbogen. »Gabry«, sagt er. Im Dunkeln kann ich ihn kaum sehen, ich spüre ihn nur, spüre die Hitze seines Körpers, diesen unscharfen Bereich, an dem seine Haut mit der Dunkelheit verschmilzt. Er lehnt sich weiter zu mir. Ich fühle, wie er nach Worten ringt, und halte den Atem an, warte.
Doch er schüttelt nur den Kopf und weicht vor mir zurück, seine Hand gleitet langsam von meinem Arm. Ich will ihn zurückrufen, ihm sagen, dass er nicht gehen soll. Er bleibt einen Moment stehen und sieht mich nur an. »Tut mir leid«, sagt er. »Ich hätte nicht …«
Ich rühre mich nicht. Atme nicht. Ich warte nur – und hoffe.
In seinem Gesicht verändert sich etwas, die Unschlüssigkeit verschwindet. Er geht auf mich zu. Er legt mir die Hand in den Nacken. Ich halte die Luft an. Sein Gesicht ist ganz nah. »Ich bin nicht Catcher«, sagt er. Sein Griff wird fester. »Ich werde dich nie so gut kennen wie er. Ich war nicht dabei, all diese Jahre. Wie du früher warst, vor all dem hier, werde ich nie so gut wissen wie er.«
Er streicht mir übers Ohr. Mein Herz flattert. »Aber du bist auch nicht mehr dieselbe. Du bist nicht mehr das Mädchen, das du vorher warst, und er ist nicht mehr derselbe Junge. Wir haben uns alle verändert. Alles in unserer Welt hat sich verändert. Es wird nie mehr so werden wie früher.«
Er zögert. Mein ganzer Körper kribbelt vor Erwartung. »Es tut mir leid, dass ich dich im Wald gelassen habe, als wir Kinder waren«, sagt er. »Es tut mir leid, dass ich all die Jahre nicht da war. Es tut mir leid, dass ich es verpasst habe, mit dir heranzuwachsen, und dass du nicht bei deiner Familie aufwachsen konntest. Ich hätte auf dich aufpassen sollen – und habe es nicht getan. Ich habe versagt. Aber jetzt bin ich hier. Ich weiß, wer du jetzt bist. Ich weiß, wer du geworden bist. Du bist nicht Annah. Du bist nicht mal Abigail – du bist Gabrielle.«
Ich muss immerzu an das denken, was meine Mutter gestern Nacht gesagt hat: Keiner von uns ist vollkommen. Wir machen alle Fehler. Und manchmal bereichern diese Fehler unser Leben. Ich hätte nie das Meer gesehen, wenn ich nicht als Kind im Wald verloren gegangen wäre. Ich wäre nie bei meiner Mutter aufgewachsen, noch hätte ich Cira und Catcher gekannt. Wegen Elias bin ich die, die ich heute bin.
Er redet weiter, ich spüre seinen heißen Atem auf dem Gesicht. »Und du bist diejenige, die ich will«, flüstert er. Beim Reden streifen seine Lippen meinen Mund.
Ehe ich etwas sagen kann, ehe ich auch nur reagieren kann, berührt er mein Haar. »Ich weiß, für dich hat sich in den letzten Wochen alles zum Schlimmeren verändert. Aber für mich …«
Er spricht nicht weiter
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