Das Meer Der Tausend Seelen
das nötige Licht geben.
»Wir müssen uns beeilen«, rufe ich über die Schulter. Ich drehe mich zum Feuer um. Catcher pustet in die Asche. Der Himmel wird heller. Ich spähe angestrengt nach Elias, sehe jedoch nichts, nur – undeutlich – die Kante des steinigen Abhangs und die Umrisse meiner Hände, die ins Leere greifen.
Catcher umwickelt schließlich zwei Äste mit einem Hemd aus dem Rucksack meiner Mutter und zündet sie am Feuer an. Einen trägt er an den Rand des Pfades, den anderen reicht er Harry, der ihm folgt.
Ich beobachte, wie Catcher die Flamme ins Halbdunkel absenkt und über die Klippe schwenkt. Als ich Elias endlich am Rande des Lichtkreises entdecke, bleibt mir die Luft weg. »Ich kann zu ihm runterklettern«, sage ich und strecke meine Beine in die Leere. Doch Catcher hält mich zurück.
Am Horizont glüht der Himmel. Die Sonne fließt über den Berg auf der anderen Seite des Tales und füllt es mit Licht.
Ich schaue Catcher an. Lass mich los, will ich schon sagen, aber etwas an seiner Miene hält mich davon ab. Das Feuer zuckt und flackert, als er mit zitternder Hand nach Harrys Fackel greift. Er hält beide Fackeln über den Abgrund und lässt sie fallen.
Wie verletzte Vögel trudeln die Flammen nach unten. Und kurz bevor sie verlöschen, können wir alle die Bewegung sehen. Das Zucken eines Armes, einen Unterkiefer.
Keiner von regt sich, keiner von uns atmet oder sagt ein Wort. Genau unter der Stelle, wo Elias an einem Stück Zaun festhängt, recken sich Mudo nach ihm, ihre Finger krallen sich in die Erde der Klippe, weil sie an ihn herankommen wollen. Ich weiß nicht, wie viele es sind, aber noch können sie ihn nicht erreichen.
»Elias, beweg dich nicht«, rufe ich, weiß aber, dass meine Stimme nicht genug Kraft hat, um ihn zu erreichen. Ich sehe Blut durch sein Hemd sickern, an seinem Arm entlanglaufen und auf die rasenden Mudo unter ihm tropfen.
Ohne den Blick von Elias abzuwenden – als ob er in Sicherheit wäre, solange ich ihn sehen kann –, packe ich Catchers Arm. Meine Fingerspitzen drücken sich in seine Haut. »Du musst ihm helfen«, flehe ich.
Die Welt dreht uns weiter Richtung Tag; als Catcher sich über den Abgrund schiebt, hat das Licht schon mehr Kraft. Endlich kann ich unsere Umgebung besser erkennen: Es hat einen Erdrutsch gegeben. Entwurzelte Bäume haben sich um die Überreste des Zauns gewunden, der den Pfad begrenzt hat, und sind abgerutscht.
Elias liegt auf einem Teil des Zaunes, der sich zwischen zwei morsch wirkenden jungen Bäumen etwa sechs Meter unter uns verfangen hat. Unter ihm kämpfen sich die Mudo an ihn heran, ihre Finger sind wund und blutig, weil sie versuchen, durch den steinigen Sand nach oben zu klettern. Ich halte die Luft an und hoffe, der Berg ist so steil, dass die Mudo es nicht schaffen werden, an ihn heranzukommen.
Catcher macht sich auf den Weg zu Elias. Wenn er abrutscht, hält er sich an Wurzelwerk und Büschen fest. Ich presse mir die Hand auf den Mund, weil ich Catcher am liebsten zurufen würde, vorsichtig zu sein, und weil ich Elias bitten möchte, doch etwas zu sagen, damit ich weiß, dass er okay ist. Doch als der Himmel heller wird, kann ich sogar von hier sehen, wie weiß sein Gesicht ist. Er hat die Lippen vor Schmerz zusammenpresst, und sein Bein steht in einem unnatürlichen Winkel ab.
In diesem Moment ist mein einziger Wunsch auf der Welt, dass Elias alles gut übersteht. Steine lösen sich unter Catchers Füßen und poltern den Hang hinunter. Bevor sie in der Dunkelheit des Tales verschwinden, treffen manche dabei die Mudo. Wieder rutscht Catcher aus, er stolpert ein Stück weiter nach unten, erst dann kann er sich an einem jungen Baum festhalten.
Ich schließe die Augen, ich kann es nicht mitansehen. Mein Herz wird nicht weiterschlagen, wenn Catcher oder Elias etwas zustößt. Ich höre mehr Steine und Schutt ins Tal rutschen, Odys winselt, und Harry flüstert eine Art Gebet. Aber ich denke nur an Elias, erinnere mich, wie sich unsere Lippen berührt haben, wie seine Stimme klang, als er mir gesagt hat, er wolle mit mir zusammen sein. In jedem Teil meines Wesens spüre ich, wie sehr mir an ihm liegt, wie verzweifelt ich mich danach sehne, dass er unversehrt ist.
Endlich höre ich meine Mutter erleichtert seufzen. Ich öffne die Augen. Elias liegt auf dem Boden, Catcher, der ihn den Hang hochgeschleppt hat, beugt sich keuchend und schwitzend vor Anstrengung über ihn. Ich habe Angst, näher zu kommen, und kann
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