Das Meer Der Tausend Seelen
alles, was zwischen dem, was wir hier aufgebaut haben, und der Vernichtung steht.«
Ein paar Leute regen sich, ein Kind fängt an zu weinen und wird beruhigt. »Unsere Regeln gibt es aus gutem Grund. Alle profitieren davon. Und wir machen allen diese Regeln klar. Deshalb wissen auch alle, dass es ein ernsthaftes Vergehen ist, heimlich über die Barriere zu klettern. Das ist eins der schlimmsten Vergehen überhaupt. Denn sobald die Ansteckung unsere Schutzwälle durchbricht, sind wir alle so gut wie tot.«
Das Haar klebt mir in der Hitze am Nacken, während die Worte des Vorsitzenden zu mir durchdringen. Alles, was er sagt, ist wahr, und immer wieder frage ich mich, warum ich letzte Nacht nicht versucht habe, die Gruppe aufzuhalten. Das Mädchen in dem kleineren Käfig weint jetzt, und sogar von meinem Platz in der Menge kann ich die Sonne auf den Tränen glitzern sehen, die ihr über die Wangen laufen. Sie macht sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen oder ihr Gesicht zu verstecken. Ich beobachte, wie der Junge neben ihr den Arm um ihre Schultern legt – und wieder trifft es mich wie ein Schlag: Das könnte ich sein. Und vielleicht hätte ich das auch sein sollen.
»Letzte Nacht haben junge Leute aus Vista unsere Regeln gebrochen, und einige von ihnen haben gestanden, dass so ein Regelbruch nicht zum ersten Mal stattgefunden hat.« Mir wird noch heißer, ich schaue mich um, erwarte, dass mich alle ansehen. Aber alle schauen aufmerksam zum Podium.
»Auch ich war einmal jung. Ich verstehe den Drang, Grenzen austesten zu wollen. Aber wir haben deutlich gemacht, dass dies für einige Grenzen nicht gelten darf. Und diese jungen Leute haben den Preis für ihre Handlungen gezahlt.«
Er weist mit den Händen auf die Käfige links und rechts von ihm. »Zwei sind bereits gestorben, man hat sie nach der Wandlung getötet. Drei weitere sind infiziert. Die Übrigen bleiben zu unserer Sicherheit unter Quarantäne. Und zwei andere …« Er lässt den Kopf sinken und hebt ihn dann langsam, sein Blick streift uns alle prüfend. Mir kommt es vor, als würde er bei mir verharren, und ich ducke mich hinter meinen Vordermann.
»Zwei weitere werden vermisst. Man hat uns berichtet, dass sie angesteckt wurden. Die Art des Angriffs lässt vermuten, dass auch sie zu Breakern geworden sind. Ihre Seelen sind für immer verloren, die Erlösung durch einen schnellen und ewigen Tod ist nicht mehr möglich.«
Bei der Bestätigung dieser Nachricht schwillt das Flüstern und Murmeln um mich herum an. Ich stehe nur schlaff da und höre immer wieder seine Worte. Zwei sind gestorben: Mellie und der Junge, den Cira getötet hat. Die drei im Käfig sind angesteckt. Und zwei – Catcher und Griffin, der Rotschopf, der mit Mellie getanzt hat –, sind immer noch da draußen. Catcher ist nicht von der Miliz gefangen worden. In meinem Körper beginnt ein winziges Fünkchen Hoffnung zu summen und herumzuschwirren. Er könnte noch leben.
»Aber die wichtigste Frage ist: Was passiert nun?« Der Vorsitzende macht eine Pause, als wäre er ein Alleinunterhalter und nicht der Mann, den das Protektorat zu unserem Anführer bestimmt hat. »Der Rat hat sich heute Morgen versammelt. Wir haben eine Anzahl von Vorschlägen gehört, Plädoyers für und gegen diejenigen, die vor euch stehen.
Ihr müsst verstehen, dass es hier nicht um das Individuum geht. Unsere Regeln existieren für das Kollektiv. Sie betreffen das Überleben und die Sicherheit. Millionen von Menschen haben ihr Leben in dieser Schlacht geopfert. Es ist unsere Pflicht, diese Opfer zu ehren. Und ihr müsst wissen, dass wir als eure Führer unsere Pflichten nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
Das habe ich alles schon früher gehört, die Warnungen, die man ein ums andere Mal wiederholt hat, so oft, dass sie ihre Kraft verloren haben. Aber als ich sie jetzt höre, möchte ich jeden einzelnen Menschen in dieser Stadt packen und zwingen, das zu sehen, was ich gesehen habe. Sie sollen zuschauen, wie ihre Freunde gebissen werden und wiederkehren. Sie sollen sehen, dass es hinter der Barriere nichts weiter gibt als Tod und Schmerz, ganz gleich, wovon sie geträumt haben mögen.
Er atmet tief durch und senkt die Stimme, zwingt uns alle, uns nach vorn zu lehnen, damit wir ihn verstehen können. »Es war nicht leicht für uns, eine Entscheidung zu treffen.«
Mein ganzer Körper ist gefühllos vor Angst. Ich schlucke. Ich will nicht hören, was er uns gleich erzählen wird, aber mich dem zu verweigern
Weitere Kostenlose Bücher