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Das Meer Der Tausend Seelen

Das Meer Der Tausend Seelen

Titel: Das Meer Der Tausend Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan , Catrin Frischer
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einmal. »Ohne dich schaffe ich das nicht.« Tränen trüben meinen Blick, sein Gesicht verschwimmt. »Ich brauche dich. Ich weiß, du hast schreckliche Angst. Ich auch. Aber du musst es tun. Du musst weitermachen.«
    »Warum?«, fragt er. Und ich weiß, dass er nicht nur fragt, warum ich ihn brauche, sondern auch, warum wir hier sind. Warum uns all das passiert. Warum wir uns überhaupt noch anstrengen.
    Ich denke an meine Schwester. Ich muss sie finden. Und ich denke an Elias und daran, dass ich alles Nötige tun muss, um ihn wiederzusehen. Ich denke an mein Versprechen, mit ihm etwas aufzubauen. Ich denke an meine Mutter. Was hat sie mir noch gleich über das Leben gesagt? Entweder entscheiden wir uns dafür oder dagegen.
    »Augen zu«, befehle ich Catcher. Er atmet hörbar ein, schaut hinab in die Tiefe und wimmert. »Erinnerst du dich an den Abend, als wir über die Barriere geklettert sind? Da hast du doch gesagt, dass ich dir vertrauen soll. Jetzt musst du mir vertrauen. Mach die Augen zu.«
    Seine Augenlider flattern, aber er schließt die Augen, und ich spüre, dass sich seine Finger noch fester in den Zaun krallen.
    »Du weißt, wo das Sims ist. Heb deinen linken Fuß rauf«, sage ich, und er tut es. Jetzt stehen wir beide voreinander.
    »Und jetzt schieb deinen Fuß auf dem Sims entlang, folge meinen Fingern.« Ich führe unsere Hände am Maschendraht entlang. Seine Stirn ist gefurcht, die Lippen sind ein wenig geöffnet. Am liebsten möchte ich über diesen vertrauten Gesichtsausdruck lachen, doch ich bemühe mich um eine beruhigende Stimme. Langsam schieben wir uns weiter die Brücke entlang.
    Der Rekruter kommt schneller voran, er nähert sich, doch Catcher sage ich das nicht, ich murmele nur weiter, dass er sich ausschließlich auf den nächsten Schritt konzentrieren soll.
    Doch dann klettert der Rekruter nicht weiter. Er schaut zu mir und dann nach unten. Ich spüre sein Zittern, das den Zaun erschüttert. Ich weiß, ich sollte das nicht tun. Ich weiß, wenn ich hinunterschaue, bekomme ich nur noch mehr Angst. Aber ich kann es nicht lassen.
    Die Morgensonne hat den Nebel aufgelöst, das Tal unter uns ist jetzt klar zu sehen. Und die Ungeheuerlichkeit dessen, was ich dort erblicke, löscht alle anderen Sinne aus: Da ist kein Fluss, kein Wasser. Dort, Hunderte von Metern unter uns, bewegt sich anscheinend die Erde. Zuerst halte ich es für irgendein Feld, doch dann löst sich das Bild in einzelne Farben auf.
    Und plötzlich begreife ich, was das ist. Wie ein Fluss, der über die Ufer getreten ist, haben Mudo das ganze Tal überschwemmt. Hier tost kein Wasserfall, hier trampeln Millionen von Füßen. Und Millionen von Mündern stöhnen. Sie strömen durchs Tal, mehr Menschen, als ich je gesehen habe. Ich hätte nie gedacht, dass es so viele Menschen auf der Welt geben könnte. Und sie spüren mich, recken sich nach mir, sind aber zwischen den Bergen gefangen.
    Ich kralle meine Finger in den Zaun. Mir ist schwindlig und heiß, ich drücke das Gesicht an die Schulter. Mir ist, als hätte sich alles in mir aufgelöst. Nur meine leere Hülle starrt auf dieses Bild.
    Endlos ziehen sie sich bis zum Horizont, wie die Ewigkeit breiten sie sich um mich herum aus. Sie ächzen und stöhnen, wogen, türmen sich übereinander und fallen. Die Tiefe und das schiere Ausmaß sind jenseits des Fassbaren, mein Blick kann sich nicht auf einen Einzelnen richten. Stattdessen ertrinke ich in ihrem Verlangen. Die Leiber der Mudo sind wie der Ozean, der ansteigt und Wellen schlägt – todgeweihte Wellen.

48
    C atcher merkt, dass ich stehen geblieben bin, und macht die Augen auf. »Was ist los?«, fragt er mit einem panischen Unterton. Ich schüttele den Kopf, denn ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wie soll ich ihm das erklären?
    »Schau nicht nach unten, Catcher«, flüstere ich. »Bitte, tu es nicht.«
    Aber natürlich hat er es mir angehört und tut es doch. Er schnappt nach Luft. »Eine Horde«, murmelt er, das Wort dröhnt bereits in meinem Kopf. Wir haben in der Schule davon gehört, doch wie beim Thema Breaker haben wir nicht besonders gut aufgepasst. Für uns war das nur etwas, womit man kleinen Kindern Angst machen und Albträume schüren konnte.
    Es ist überwältigend, sie alle zu sehen – jeder Farbfleck war einmal ein Mensch – und zu begreifen, dass sie hier in einer Art Winterschlaf gelegen und darauf gewartet haben, vom Geruch eines lebenden Menschen erweckt zu werden. Wenn so eine riesige Menge von Mudo

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