Das Meer Der Tausend Seelen
jetzt näher gekommen, ihr Hunger ein Stimmengewirr aus unmenschlichen Tönen.
Wir rennen weg von ihnen, den Strand entlang, der Fremde und ich. Ich ringe nach Luft, kann aber nicht stehen bleiben und Atem schöpfen. Er schwenkt nach links ab zu einem schmalen Pfad durch die Dünen. Ich zögere, ihm zu folgen, habe Angst, in den Sandbergen in die Falle zu geraten, doch dann blitzt das Weiß seines nassen Kittels im Mondlicht auf und verschwindet. Plötzlich bin ich allein am Strand, nur Mudo stolpern hinter mir her.
Panik durchfährt mich, und ich folge ihm in die Dünen. Zwischen den Sandhügeln ist die Nacht still, bis auf mein Husten und seine Atemgeräusche. Ich kann das Stöhnen nicht hören und auch das Meer nicht. Der Mond verbirgt sich und wirft Schatten über uns. Ich beuge mich weit vor und übergebe mich.
Da zieht er auch schon wieder an mir. Vor uns ragt ein verschlossenes Maschendrahttor auf, das auf den alten Deich hinausgeht. Fast ohne innezuhalten, klettert er darüber. Meine Finger zittern unkontrolliert, und das rostige Metall schneidet mir in die Haut. Arme und Beine schlottern, als ich versuche, mich am Draht hochzuziehen, und als hinter uns der erste Mudo vom Pfad stolpert, greift der Junge nach unten und hievt mich hoch.
Wir verharren oben auf dem Tor, und für einen Augenblick erinnere ich mich daran, wie Catcher und ich uns erst letzte Nacht auf der Barriere gegenübergesessen haben. Dieses Bild ist so scharf, so klar, dass mir alles wehtut vor Sehnsucht. Sehnsucht nach Catcher. Nach dieser Nacht. Danach, alles ungeschehen machen, alles anders machen zu können.
Aber dann springt der Fremde auf den Boden. Auch ich lasse den Zaun los und komme neben ihm auf. Meine Beine geben unter mir nach, ich falle auf Hände und Knie. Der Junge steht neben mir, und ich zucke zurück, als die Mudo sich gegen den Zaun werfen, das Metall wölbt sich unter ihrem Gewicht.
»Wird er halten?«, frage ich und schaue zu ihm auf. Er nickt und starrt die Mudo an, die ihre Hände durch die Maschen zwängen. Ihre Knochen knacken. Ihr Stöhnen ähnelt Schmerzgeheul.
Eine Weile bleiben wir so. Der Fremde starrt die an, die einmal waren, und mich, auf dem Boden, wie ich huste und mich darum bemühe, meine Atmung in den Griff zu bekommen. Das Gefühl der Mudo-Haut auf meiner kann ich immer noch nicht abschütteln.
Ich grabe die Finger in den schmutzigen Sand und bin noch immer nicht überzeugt davon, in Sicherheit zu sein. Langsam lehne ich mich zurück und streiche mir über Arme und Beine. Ich habe das Bedürfnis, mich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist mit mir und dass ich nicht gebissen wurde.
Während ich damit beschäftigt bin, schaue ich heimlich zu dem Fremden und frage mich, wer er ist und wo er hergekommen sein mag. Er scheint ein oder zwei Jahre älter zu sein als ich. Seine weiße Tunika ist durchnässt und klebt an seinem Körper. Zwei dicke Lederriemen führen über seine Schultern und kreuzen sich vor der Brust, mit denen Schwertscheiden auf seinen Rücken geschnallt sind. Noch nie habe ich jemanden wie ihn gekleidet gesehen, aus Vista stammt er nicht, da bin ich mir sicher.
Schließlich wendet er sich mir zu, hält mir eine Hand hin und hilft mir beim Aufstehen. Seine Haut ist warm, sein Griff fest. Einen Moment lang schmiegen sich seine Finger an meine, dann zieht er die Hand weg. Offenbar will er etwas sagen, doch dann verfinstert sich sein Gesicht, und er blickt an mir vorbei.
Sein Kopf ist rasiert, seine Wangenknochen treten daher scharf hervor. Drei parallele Striemen ziehen sich über die linke Seite seines Gesichts. Die müssen von mir sein, vorhin im Meer habe ich ihn gekratzt.
Mit hämmerndem Herzen schätze ich diese neue Situation ein. Ja, vor den Mudo bin ich sicher, aber nun bin ich mit einem völlig Fremden in den leeren Ruinen der alten Stadt – allein. Er ist drahtiger, aber auch breiter als ich – und mit Sicherheit stärker –, abgesehen davon habe ich keine Ahnung, ob er allein hier ist oder mit anderen. Ich bin unbewaffnet, meine Sichel steckt noch immer im Hals eines Mudo, und plötzlich komme ich mir nackt vor, ohne jeglichen Schutz. In unserer Welt können nicht nur Mudo eine tödliche Bedrohung sein, hat meine Mutter mir immer eingeschärft.
Er beobachtet mich erwartungsvoll. Ich mache einen Schritt zurück, von ihm und von den Zäunen und den Mudo. Wasser tropft langsam meine Beine hinab. »Das von vorhin tut mir leid«, sage ich zu meinen Füßen. Meine
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