Das Meer Der Tausend Seelen
die Bettkante.
Sie setzt sich neben mich. In ihrer Hand hält sie ein kleines, dünnes Buch, an dessen Kanten sie mit dem Finger entlangfährt, als ob sie nervös wäre.
Abgesehen von gestern habe ich meine Mutter noch nie zögern sehen, noch nie verunsichert. Es erschüttert mich, sie jetzt so zu erleben.
Obwohl wir hier Seite an Seite sitzen, obwohl sich unsere Schultern berühren, unsere Hüften und Knie, war ich noch nie weiter von ihr weg. Ich will ihr von der letzen Nacht erzählen, mich entschuldigen, dass ich weggelaufen bin, und sie um Vergebung bitten. Aber ich tue es nicht.
Schließlich bricht sie das Schweigen und die Anspannung. »Es tut mir leid, Gabry«, sagt sie. Ihre Stimme klingt so niedergeschlagen, ohne die gewohnte Kraft. »Wahrscheinlich hätte ich dir vorher erzählen sollen, wo du herkommst.«
Sie starrt auf ihre Hände, die sie auf den Umschlag des Buches presst, und ich kann den Titel zwischen ihren schlanken Fingern entziffern: Shakespeares Sonette . Ich dachte immer, unsere Hände wären sich so ähnlich, ich habe sie immer für unser gemeinsames Merkmal gehalten.
Doch sogar dieser Gedanke gründet auf einer Lüge, und diese Einsicht macht von Neuem klar, wie tief der Vertrauensbruch ist.
»Ich dachte nur, es wäre leichter«, sagt sie. »Der Wald … es ist so grausam.« Das letzte Wort spuckt sie förmlich aus, und die Gefühle ergreifen von ihrem Gesicht Besitz: Wut, Angst, Trauer, Resignation.
»Ich dachte wohl, es wäre für uns beide leichter, wenn wir den Wald vergessen würden – wenn wir ihn einfach hinter uns lassen könnten.«
Wann hat ihr Gesicht so viele Falten bekommen? Ihr Haar noch mehr weiße Strähnen? Das war mir gar nicht aufgefallen.
Eigentlich sollte ich ihr sagen, dass es in Ordnung ist, dass ich ihr vergebe, aber ich kann nicht. Wenn es irgendjemanden auf der Welt gibt, dem ich vertrauen können sollte, dann ist das meine Mutter – und das macht alles nur noch schmerzlicher.
Sie blättert in dem Buch und wartet darauf, dass ich etwas sage, aber ich weiß nicht was. Also bleibe ich stumm.
Sie holt tief Atem und hält kurz die Luft an. »Ich gehe zurück in den Wald, Gabrielle.«
»Was?«, antworte ich schon, bevor ich das Wort im Kopf gebildet habe, mit tausend Einwänden dahinter. »Warum? Wie? Ich will nicht …« Ich weiß nicht mal, wie ich meine Fragen stellen soll, und schüttele den Kopf. Plötzlich dringt die Vorstellung, sie zu verlieren, zu mir durch, und ich schlucke bittere Beklommenheit.
Sie legt eine Hand auf mein Bein und schmiegt die Finger an mein Knie. »Das muss ich tun, Gabry«, sagt sie. »Letzte Nacht habe ich an dich gedacht und an alles, was du gesagt hast. Du hast recht. Ich hätte sie nicht einfach so verlassen sollen – ich hätte die Vergangenheit nicht loslassen sollen.«
Ich nehme ihre Worte kaum wahr, weil ich zu sehr damit beschäftigt bin, herauszufinden, was das für mich bedeutet – und für den Leuchtturm und Catcher und meine Zukunft.
»Und was ist mit mir?«, frage ich. Meine Stimme klingt klein und hohl.
Sie schaut mich an, ihre Augen strahlen, obwohl sie so blass ist. »Ich möchte, dass du mit mir kommst.«
Ich springe auf und gehe rückwärts aufs Fenster zu. »Nein«, sage ich und schüttele den Kopf. »Nein.« Ich bin mir meiner Antwort sicher.
»Gabry …« Ich weiß, sie wird versuchen, mich zu überzeugen, und ich schneide ihr das Wort ab.
»Ich kann nicht. Nicht in den Wald. Nein.« Ich wische mir über meine schweißglänzende Oberlippe, die Angst glüht in mir. »Es ist gefährlich. Es ist verboten. Dort sind lauter Mudo!« Meine Stimme überschlägt sich, ich wandere im Zimmer auf und ab.
Meine Mutter sitzt nur unbewegt auf dem Bett, und das macht mich noch wütender. In letzter Zeit habe ich zu viel verloren, alles hat sich zu schnell verändert, und das ertrage ich nicht, nicht jetzt. Ich brauche meine Mutter, ihre Unterstützung und ihre Liebe, ihre Hilfe und ihren Schutz.
»Du kannst nicht gehen«, sage ich.
»Gabry …« Dieses Mal schwingt eine Warnung in ihrer Stimme mit, aber ich höre nicht darauf.
»Nein, der Rat, sie werden es herausfinden. Sie werden dich bestrafen – und was wird dann aus dem Leuchtturm? Was wird aus mir?«
Sie steht auf und kommt zu mir, legt die Hände auf meine Schultern. Ich will mich abwenden, tue es aber nicht, weil ihre Berührung mich viel zu sehr an die Zeit erinnert, als ich klein war und ihre Bestätigung brauchte. »Der Wald ist sicher genug,
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