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Das Meer Der Tausend Seelen

Das Meer Der Tausend Seelen

Titel: Das Meer Der Tausend Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan , Catrin Frischer
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Gabrielle. Ich habe ihn schon zweimal durchquert, und ich kann es noch mal schaffen. Schwierig ist nur der erste Teil, wenn man vom Tor über dem Wasserfall zum Pfad hundert Meter weiter laufen muss. Ich kenne dich, Gabry, und ich weiß, du bist stark genug dafür.«
    Ich will nachgeben, will mich von ihr führen lassen und ihr einfach blind folgen. Aber ich denke an Catcher und Cira … und ich kann es nicht tun.
    »Warum?«, frage ich. Der Schmerz, den ich fühle, rankt sich um das Wort und durchdringt es.
    »Ich muss wissen, was mit ihnen passiert ist«, sagt sie nur.
    »Aber das ist Jahre her.«
    Sie zuckt mit den Schultern. »Ich hätte sie nicht aufgeben sollen. Ich hätte die Hoffnung nicht aufgeben, sondern etwas tun sollen.« Sie macht eine Pause und schaut an mir vorbei. »Ich muss es einfach wissen, so oder so.«
    »Und deshalb lässt du mich zurück … verlässt du mich …? Setzst du dein Leben aufs Spiel? Was ist mit mir?«
    »Darum sollst du mit mir kommen, wir können gleichzeitig etwas über deine Vergangenheit herausfinden«, drängt sie.
    Ich schüttele den Kopf. »Nein, nicht in den Wald.«
    »Aber der Wald muss doch nicht gefährlich sein …«
    »Du hast mich doch selbst gelehrt, vor dem Wald Angst zu haben!«, brülle ich sie an, allen Zwang und jegliche Zurückhaltung fallen lassend. »Mein ganzes Leben lang hast du mir genau das erzählt: Hüte dich vor dem Wald der tausend Augen! Du hast mir erzählt, dort gäbe es nichts als Tod und Verzweiflung!«
    »Ich wollte, dass du in Sicherheit aufwächst, Gabrielle«, sagt sie scharf, »nicht verängstigt.«
    Ich starre sie an. Wenn sie mich geschlagen hätte, könnte ich nicht schockierter sein. Und meine Worte sind dazu bestimmt, sie genauso tief zu treffen: »Und wessen Schuld ist das?«, frage ich, verschränke die Arme vor der Brust und ziehe eine Augenbraue hoch.
    Wir starren einander an und atmen beide schwer, wie nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung.
    Vom Hauptraum unten höre ich die kleinen Glocken läuten, gleich ist Hochwasser. Für meine Mutter ist es das Signal, zu ihrem Kontrollgang aufzubrechen. Sie geht zur Tür und schaut sich zu mir um.
    Noch einmal versucht sie mich zu überreden, mit ihr in den Wald zu gehen, aber ich gebe nicht nach. Ich kann Catcher und Cira nicht verlassen, sage ich mir, doch in Wirklichkeit weiß ich, dass ich zu ängstlich bin. Und das kann ich ihr nicht gestehen, denn ich weiß nicht, ob sie eine solche Angst wie meine je empfunden hat.
    »Bitte, denk darüber nach, Gabry«, sagt sie. »Wenn ich den Strand gesäubert habe, komme ich wieder, dann können wir weiterreden.« Sie berührt den Türknauf beim Hinausgehen, automatisch reibt sie die Finger über die Worte, die dort eingeritzt sind: eine Zeile aus einem Sonett von Shakespeare. Innerlich schreiend, wende ich mich vom Vertrauten ab. Dann höre ich das Echo ihrer Schritte auf der Treppe verhallen.
    »Ich kann nicht«, sage ich in den leeren Raum. Ich wünschte, ich wäre stark genug, so stark wie meine Mutter. Aber ich bin überhaupt nicht wie sie. Als sie in meinem Alter war, ist ihr ihr ganzes Leben entrissen worden, sie hat Jahre damit verbracht, Sicherheit zu finden. Ich habe nie etwas anderes gekannt als Sicherheit – und ich habe zu große Angst, das aufzugeben.
    Hämmern weckt mich. Eine Weile denke ich, es wären nur Kopfschmerzen, weil ich zu lange in der Hitze geschlafen habe. Benommen starre ich auf die Wände des Leuchtfeuerraumes, auf ein weiteres Shakespeare-Sonett, das meine Mutter letzte Nacht, als ich weg war, frisch in die Mauer unter den Fenstern geritzt hat. Sie hat mich noch einmal gebeten, mit ihr in den Wald zu kommen, und ich habe noch einmal abgelehnt. Noch immer bin ich schockiert und verwundert über meine Fähigkeit, Nein zu sagen.
    Mit glänzenden Augen hat sie mir erzählt, wenn ich sie finden wolle, müsse ich nur dem Licht folgen. Dann ist sie weggegangen. Ich habe sie durchs Fernglas beobachtet, bis ich schließlich draußen auf der Galerie eingeschlafen bin.
    Ich höre noch immer Hämmern und stelle erst jetzt fest, dass es von unten kommt. Sofort frage ich mich, ob das meine Mutter sein könnte, ob sie vielleicht den Plan aufgegeben hat, in den Wald zu gehen, und nach Hause kommt. Heiß und heftig blüht die Hoffnung in mir auf, und ich renne die Treppen hinunter zur Haupttür.
    Doch als ich sie aufreiße, ist es Elias. Hinter ihm steht die Sonne, und mein vom Schlaf träger Kopf hat Mühe, die Situation

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