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Das Meer Der Tausend Seelen

Das Meer Der Tausend Seelen

Titel: Das Meer Der Tausend Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan , Catrin Frischer
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zu erfassen. »Elias, was machst du …«
    »Am Strand«, unterbricht er mich und zeigt keuchend über seine Schulter. Ich schaue an ihm vorbei und sehe sie: die aufgedunsenen Körper der angespülten Mudo, einige von ihnen wittern uns schon und rappeln sich hoch.
    Im Haus zeigt das beharrliche Klingeln der Glocken den Gezeitenwechsel an. Ich bin so an das Geräusch gewöhnt und daran, dass meine Mutter diejenige ist, die auf ihren Ruf reagiert, dass ich es nicht mal erkannt habe. Mit der Hand wische ich mir übers Gesicht, dabei wird mir das ungeheuerliche Ausmaß meiner Verlassenheit bewusst. Obwohl meine Mutter gesagt hat, sie würde in ein paar Wochen wiederkommen, ist ihre Abwesenheit für mich wie ein andauernder Schmerz.
    Ihre Pflichten sind nun mir zugefallen, und ich habe schon versagt.
    »Hier«, sage ich, reiße eine Schaufel mit scharfem Blatt vom Ständer an der Tür und drücke sie ihm in die Hände. Er dreht sich um und rennt zurück zum Wasser, mit geübten, sicheren Bewegungen fängt er an, die Mudo zu enthaupten. In schneller Folge tötet er zwei, damit bleiben zwei weitere, die auf ihn zu stolpern. Er schlägt dem einen das Blatt gegen die Knie, und ich höre das Knacken, als die Knochen brechen. Dann holt er mit der Schaufel nach dem anderen aus, schlägt ihm den Kopf ein und beugt sich über ihn, damit er den Hals durchschneiden kann.
    Ich nehme mir auch eine Schaufel und gehe mit großen Schritten über den Strand auf Elias zu. Er sagt nichts, als ich mich einer Mudo nähere, deren Körper verdreht daliegt, wo die Wellen ihn zurückgelassen haben.
    Beim Köpfen der Mudo gehe ich nicht mit derselben Sorgfalt vor wie meine Mutter. Für mich sollen sie nichts weiter sein als Monster. Ich weigere mich, darüber nachzudenken, wo sie herkommen und wie sie hier enden konnten. Ich kann die Vorstellung von Familien, die sie vermissen, nicht zulassen, und will auch nicht wissen, wie sie gestorben sind und wer sie einmal waren.
    Ich bin einfach zufrieden damit, ihrem Elend und ihrem unstillbaren Hunger ein Ende zu machen. Dasselbe werde ich für Catcher tun müssen, wenn die Zeit gekommen ist – noch etwas, worüber ich jetzt nicht nachdenken will.
    Meine Arme zittern, als ich mit dem letzten Mudo fertig bin, und die Wellen nehmen die enthaupteten Leichen wieder mit in die Tiefe. Die Nachmittagssonne gibt allem etwas Schroffes, die Hitze über dem Wasser bricht das Licht zu Millionen von Farben.
    Elias rammt seine Schaufel in den Sand und stützt die Arme auf den Griff. Schweiß schimmert auf seiner Haut, läuft über seinen Bizeps, bis zu dem er die Ärmel seines Kittels aufgerollt hat.
    Ich sollte ihm dafür danken, dass er mich geweckt und mir geholfen hat, den Strand zu räumen, denn allein hätte ich das vermutlich nicht geschafft. »Was machst du hier?«, frage ich stattdessen und versuche mich für den anklagenden Ton nicht zu schämen.

14
    E lias reibt sich den Nacken. »Gern geschehen«, sagt er seufzend. Ich schaue ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
    Irgendwie ist es anders, bei Tageslicht hier mit ihm zusammen zu sein, anscheinend ist es leichter zu reden, wenn die Dunkelheit mehr von unseren Gesichtern und Gefühlen verhüllt. Ich bohre meinen Fuß in den Strand, Sand bedeckt meine Zehen. Ich bin gereizt und feindselig, meine sonnenverbrannte Haut spannt, und mein Kopf hämmert, weil ich zu wenig getrunken habe.
    »Danke«, antworte ich endlich.
    »Ich habe mir Sorgen gemacht«, sagt er. Ich schaue ihm in die Augen, ernste Freundlichkeit sehe ich dort. Und dieses kleine bisschen Zärtlichkeit, das mein Ruin ist, weil es mir klarmacht, wie allein ich hier bin. Elias ist möglicherweise der einzige Mensch, der an mich gedacht und sich um mich gesorgt hat.
    Plötzlich überfordert mich der Gedanke an den leeren Leuchtturm, an all die leeren Nächte, die mir bevorstehen: allein. Als einziger Mensch zwischen dem Ozean und Vista. Mir steigen Tränen in die Augen.
    »Was ist los, Gabrielle?«, fragt er. »Ist alles in Ordnung?«
    Ich schaue meine Füße an, das Wasser läuft an meinen Zehen zusammen. Ich nicke. Aber das Wort, das mir über die Lippen kommt, ist: »Nein.«
    Er tritt von einem Fuß auf den anderen, als ob ihm plötzlich unbehaglich zumute wäre. »Die Flut müsste die Ungeweihten mitnehmen«, sagt er. »Dann sollte der Strand eine Zeit lang sicher sein.«
    »Meine Mutter hat sie auch immer Ungeweihte genannt«, sage ich und beobachte, wie eine Welle über die Brust eines toten Mudo

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