Das Meer Der Tausend Seelen
bemüht, uns weiter weg vom Ufer zu bringen.
Das Segel hängt schlaff herunter. Ruder und Pinne zucken von einer Seite zur anderen. Eine Welle trifft Elias und bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Mit einem Ruck lösen sich seine Hände vom Boot, und sein Kopf taucht unter Wasser.
Schreiend greife ich nach ihm, doch die Strömung reißt uns auseinander. Noch eine schaumgekrönte Welle schlägt über ihm zusammen. Ich schaue zum Strand, Griffin wird gleich das Ufer erreichen.
Ich lehne mich aus dem Boot, rufe Elias zu, er soll meinen Arm packen, aber unsere Finger sind zu nass. Er rutscht weg und strampelt im Wasser. Sein Körper gleitet durch die Wellen, bis er den Rand des Bootes schließlich fassen kann. Doch als er sich hineinziehen will, kippt es und kentert beinahe.
Wir erstarren. Er treibt im Wasser, ich lehne mich zur anderen Seite hinüber und versuche das kleine Boot auszubalancieren. Der Baum ruckt zwischen uns hin und her.
Und dann rast der Breaker in vollem Lauf ins Wasser, sein Stöhnen dringt durch die Nacht, er stolpert, fällt, rappelt sich wieder auf. Er ist wie ein Tier, eine irre Bestie, die nur auf Zerstörung aus ist.
Wieder schreie ich nach Elias, aber er sieht mich nur an. Weil sein Körper durch die Brandung mitgeschleppt wird, bleiben wir im seichten Wasser, in Reichweite des Breaker. Das Boot will durch die Wellen hinausfahren, aber Elias’ Körper zieht es wieder zurück ans Ufer.
Ich erkenne seinen Plan erst einen Herzschlag, bevor er ihn umsetzt. Ich beobachte, wie seine Finger schlaff werden und seine Hand am Bootsrumpf hinabgleitet. Dann lässt er los. Das Boot schießt ins tiefere Wasser, und ich stürze mich auf ihn.
»Nein!«, brülle ich. Seine glitschige Haut entgleitet mir, verzweifelt versuche ich ihn festzuhalten, ihn fester zu packen. Sein Kopf taucht aus dem Wasser auf und geht wieder unter. Ich recke mich, so weit ich kann, meine Finger berühren seinen Kittel. Einmal, zweimal greife ich danach, aber der Stoff treibt an meinen Fingerspitzen vorbei. Ich strecke mich ein letztes Mal – und endlich erwische ich ihn. Mit aller Kraft ziehe ich, das Boot kippt unter mir weg. Die Leinen spannen sich und schlagen gegen den Mast, das leere Segel reißt.
Hinter uns kämpft Griffin sich durch die Wellen, er kommt näher, doch ich will Elias nicht loslassen, will nicht, dass meinetwegen noch ein weiterer Mensch angesteckt wird. »Ich lasse dich nicht los!«, rufe ich ihm zu. Und endlich fängt er wieder an zu treten und zu kämpfen, und er versucht, ins Boot zu gelangen.
Ich hieve ihn bis an den Rumpf heran und lehne mich zurück, damit ich sein Gewicht ausbalancieren kann, als er über den Rand klettert und am Boden zusammenbricht. Griffins Stöhnen wird indessen immer lauter. Da Elias jetzt geborgen ist, packe ich die Leine, sichere den Mast und drehe die Pinne. Mit bebender Brust und gesenktem Kopf kniet Elias in der Mitte des Bootes.
Hinter uns streckt Griffin die Hände aus, seine Finger wollen sich gerade aufs Ruder legen, als der Wind ins Segel fährt und das Boot mit einem Ruck nach vorn schießen lässt. Es durchbricht die Wellen und entfernt sich von der Küste.
Elias und ich starren uns an, wir schnappen keuchend nach Luft. Indessen zappelt Griffin in der Brandung, sein Stöhnen erstirbt schließlich im salzigen Wasser. Ich ziehe an der Pinne, und parallel zur Küste nimmt das Boot träge Kurs auf Vista und den Leuchtturm, der in der Ferne blinkt. Elias lehnt sich an den Bug zurück, das Wasser sickert um ihn herum durch die Risse im Holz.
Meine Hände zittern, mein Körper vibriert. In meinem Kopf blitzen Funken von dem auf, was gerade geschehen ist, doch es fühlt sich nicht echt an. »Ich …« Ich breche ab und versuche zu atmen. »Ich kannte ihn«, sage ich schließlich. Griffin wird entweder in die Tiefe gezerrt oder wieder ans Ufer gespült werden. Ich überlege, ob die Strömung ihn wohl an unseren Strand schwemmen wird. Wird meine Mutter ihm dann den Kopf abhacken? Ich kann es immer noch nicht ganz begreifen: Letzte Nacht war er noch so lebendig wie ich, und jetzt ist er weg – alles, was er einmal war, ist verschwunden. Jetzt ist er nur noch ein Monster.
Schweigend beugt Elias sich vor und greift nach meiner Hand, zieht mir die Leine weg, damit ich die klaffende Wunde auf meiner Handfläche genauer untersuchen kann.
Ich mache eine Faust, er versucht meine Finger zu lösen, aber ich lasse ihn nicht gewähren. »Ich kannte ihn«, wiederhole ich. Ich bin
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