Das Meer Der Tausend Seelen
schwappt. »Sie ist im Wald aufgewachsen. Sie …« Erinnerungen stürzen auf mich ein, ersticken mich. Geschichten vermischen sich miteinander in meinem Kopf. Ich will ihm erzählen, dass ich auch aus dem Wald bin, doch ich kann die Worte nicht finden. »Sie …«, beginne ich wieder, verstumme erneut.
Schließlich lasse ich die Schultern sinken. »Sie ist weg«, sage ich. »Sie ist zurück in den Wald gegangen, und ich habe sie gehen lassen – allein.« Meine Stimme klingt hohl.
Er steht nur da und schaut zum Horizont.
»Sie ist weg. Meine beste Freundin und alle anderen in meinem Alter sind gefangen genommen worden und werden bald den Rekrutern übergeben. Und Catcher …« Seinen Namen bekomme ich kaum heraus. »Er wird auch weg sein. Alle werden weg sein, und dann bin ich allein.« Dies zuzugeben macht die Angst so echt, und das ist furchtbar.
Der Sand unter meinen Füßen bewegt sich, Elias schließt die Lücke zwischen uns. Ich spüre seine Hände in meinem Haar, und dann zieht er mich an sich. Zuerst wehre ich mich, doch dann begreife ich, dass Elias im Moment der Einzige ist, der mir noch geblieben ist. Er ist mein einziger Verbündeter. Ich weiß nicht, ob ich ihm trauen soll, ob ich es kann, aber ich habe das Gefühl, dass mir nichts anderes übrigbleibt, wenn ich nicht völlig allein sein will. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich damit jetzt zurechtkommen würde. Ob ich damit klarkomme, alles so schnell zu verlieren.
Er hält mich fest und drückt meine Wange an seine Schulter, als ob er mich vor dem Auseinanderfallen bewahren könnte – als ob er verstehen würde, was mit mir geschieht. Dieses Gefühl will ich behalten.
»Bitte, geh nicht zurück.« Ich denke an die Dunkelheit, daran, bei Einbruch der Nacht, allein im Leuchtturm zu sein. »Bitte, lass mich nicht allein hier. Wenn nun noch mehr anspülen? Bitte, bleib doch.«
Er antwortet krächzend. »Ich kann nicht, Gabry. Es tut mir leid.«
»Bitte«, flüstere ich. Ich will nicht allein sein. Ich weiß nicht, ob ich es kann. Ich war doch noch nie allein – der Gedanke macht mir schreckliche Angst.
»Ich habe nur dich.« Ich schaue ihn an, lasse ihn meinen Schmerz und meine Verletzlichkeit sehen und hoffe, er begreift, wie sehr ich ihn brauche. Wie sehr ich darum bettele, ihm zu vertrauen. In diesem Moment fühle ich mich nackt. Beinahe denke ich, dass er Ja sagen wird, denn sein Gesicht verrät seine Gefühle, aber dann schaut er wieder aufs Meer.
»Tut mir leid«, krächzt er.
Ich atme tief ein. Wie konnte ich mir nur erlauben, irgendjemandem auf dieser Welt zu vertrauen? Wie viel leichter wäre es doch, wenn mir alles egal wäre.
Einen Herzschlag lang überlege ich, ob dies mein Schicksal war, als ich als Kind im Wald zurückgelassen wurde – nachdem ich mich verirrt und bevor meine Mutter mich gefunden hatte. Sind diese Hilflosigkeit und Einsamkeit vielleicht so in meinem Leben verwurzelt, dass ich nichts anderes erhoffen, nichts anderes erwarten kann?
Damals habe ich überlebt, also muss ich fähig sein, auch jetzt zu überleben. Eine andere Wahl habe ich nicht.
Ich starre auf Elias’ Profil, an seiner angespannten Körperhaltung merke ich sein Zögern. Ich spüre, wie schwer seine widerstreitenden Gefühle zwischen uns in der Luft liegen, aber ich spüre auch seine Bestimmtheit.
Ich kann nichts sagen oder tun, um ihn zu halten. Er wird weggehen wie alle anderen. Ich komme mir dumm vor, dass ich ihn überhaupt gebeten habe zu bleiben. Er ist ein Fremder, jemand, den ich kaum kenne. Jemand, der ohne Frage ebenso wenig Grund dazu hat, sich um mich zu kümmern, wie ich mich um ihn.
Und deshalb schiebe ich ihn sanft von mir, verzichte auf seinen Trost und seine Wärme und gehe wieder zum Leuchtturm. Lasse ihn weiter in die Wellen schauen.
Im Leuchtturm ist es kühler, das Dämmerlicht eine erfrischende Abwechslung. Ich steige die Treppen hoch. Die Tür zum Zimmer ist rissig, schräg einfallendes Licht tränkt die verschrammten Fußbodenbretter auf dem Treppenabsatz. Ein Einzelbett steht an der Wand unter dem Fenster, es ist ordentlich gemacht, ein alter, ausgeblichener Quilt spannt sich stramm darüber.
Die Sonne scheint grell durchs Fenster, dahinter ist nur noch das Wasser. Am Kissen lehnt ein Foto von mir und meiner Mutter. Wir stehen am Meer, sie schlingt von hinten die Arme um mich. Ich bin noch ein Kind und lache, während die Wellen um uns tosen.
Ich erinnere mich daran, wie es aufgenommen wurde. Ein alter Mann mit
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