Das Meer Der Tausend Seelen
so wütend auf die Welt, dass in mir alles kocht, und ich muss die Lippen aufeinanderpressen, um nicht laut zu schreien. »Wie Catcher und Mellie und all die anderen. Es ist nicht gerecht.«
Ich reiße meinen Arm weg, aber er lässt mich nicht los. Stattdessen kriecht er näher an mich heran und umschließt meine Handfläche mit beiden Händen.
Unter uns schaukelt das Boot, noch mehr Wasser dringt durch die Risse ein. Ich beiße mir auf die Lippen. Die Welt ist nicht gerecht, das weiß ich, aber davon wird es auch nicht leichter.
Er zeigt auf das rohe Fleisch in meiner Hand, und ich starre ihm auf den Kopf, auf dem das Mondlicht schimmert. »Wenn deinem Freund wirklich etwas an dir läge, würde er dich nicht solche Risiken eingehen lassen«, sagt er.
Ich schließe meine Finger um den Schnitt und rücke von ihm ab, alles schmerzt. Er soll mir nicht erzählen, was Catcher für mich empfindet. Mich verwirrt das so schon genug.
»Es ist egoistisch von ihm, dich zu bitten, wiederzukommen und ihn so sehen zu müssen«, fügt er hinzu.
Ich presse die Kiefer zusammen. »Er hat mich nicht gebeten«, erwidere ich, nehme das Tau und zerre den Baum hart in den Wind. Aber es ist zu spät. Elias hat Zweifel in mir gesät, und die Wurzeln haben bereits Halt gefunden.
»Ich lasse ihn das nicht allein durchmachen«, fahre ich fort. Elias lehnt sich wieder an die Bootswand und sieht mich an. Die Fetzen des Segels werfen Schatten auf sein Gesicht, ich kann seinen Ausdruck nicht richtig erkennen. Nur sein Mund ist sichtbar und das Weiße in seinen Augen.
»Würdest du allein sein wollen?«, frage ich.
Er schließt die Augen und zuckt kaum merklich zusammen. Wenn ich ihn nicht so genau beobachten würde, dächte ich, das Boot hätte unter ihm geschwankt, mehr nicht. Gibt es jemanden in seinem Leben, oder ist er völlig allein?
Im Vorübergleiten sehe ich den Vergnügungspark und die Barriere, die sich am Strand entlangzieht. Lichter tanzen wie Glühwürmchen, wo die Miliz patrouilliert.
»Warum bist du heute Nacht da rausgegangen, Gabry? Warum hast du dein Leben riskiert?«, fragt er in der Dunkelheit. Er lässt eine Hand am Bootsrand durchs Wasser gleiten, und ich beobachte die Wellen um seine Finger.
Tausend Gründe schießen mir durch den Kopf. Wegen Catchers Lächeln, weil es so ein gutes Gefühl ist, seine Hand zu halten, weil er die Augen zusammenkneift, wenn er in die Sonne sieht, wegen seiner Höhenangst, seines Lachens, seines Dufts. Wegen dem, was ich für ihn empfinde, und weil ich bei ihm immer das Gefühl hatte, das Wichtigste auf der Welt zu sein. Weil meine Mutter mir gesagt hat, ich solle vergessen, und weil ich mir verzweifelt gewünscht habe, mich zu erinnern.
»Weil ich seiner Schwester versprochen habe, ihn zu finden«, sage ich schließlich, denn er soll wissen, dass es hier nicht nur um mich geht.
»Warum ist sie nicht selbst gegangen?«
Meine Hand bewegt die Pinne, das Boot dreht sich gegen den Wind, das Segel wird schlaff. Wir sitzen da, kleine Wellen schwappen an den Rumpf. Mir ist schlecht vor Schuldgefühlen. »Sie konnte nicht«, sage ich. »Sie kann nicht.« Ich schlucke. »Sie ist gestern Nacht vor der Barriere erwischt worden und bleibt in Quarantäne, bis sie und die anderen zu den Rekrutern geschickt werden.« Wieder einmal hämmert die Ungeheuerlichkeit auf mich ein. Wie schnell und wie umfassend sich doch alles ändert.
Ich spüre, wie er vorrückt, er streckt die Hand aus und berührt mein Knie. »Das wird schon«, sagt er. Es kommt mir vor, als könnte ich jede Rille auf seinen Fingerspitzen fühlen. Ich rücke weg, plötzlich fühle ich mich unbehaglich.
Wegen dieses kleinen bisschens Freundlichkeit möchte ich ihm glauben, aber ich kann es nicht. »Nein, wird es nicht«, antworte ich. »Die Rekruter sind eine Todesstrafe.«
Ich mache mich an der Pinne zu schaffen, bis das Segel sich mit einem Rascheln und einem Knall wieder füllt.
»Nicht für jeden«, sagt er. Er hockt sich vor mich hin und hebt mein Kinn ein Stück. Sein Gesicht liegt noch immer im Schatten verborgen, nur seine Augen sind zu sehen. Er scheint etwas sagen zu wollen, doch dann bringt eine Welle das kleine Boot ins Schwanken, und er hält sich mit beiden Händen an den Seiten fest. Würde er mich doch immer noch berühren, ist mein erster Gedanke, dann würde nicht alles um mich herum ins Schlingern geraten. Ich schüttele den Kopf, um diese Vorstellung schleunigst loszuwerden.
»Nicht alle sterben, die sich den
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